Unendlicher Regreß auf Säuberung

H.-J. Schädlich und Helmut Hartwig: Zwei Vorträge zur Frage „Ist Harmonie Gewalt?“  ■ Von Fritz von Klinggräff

Dieser deutsche Schriftsteller geht mit seinen Stasi-Akten hausieren. Ob Hans-Joachim Schädlich in Köln liest oder in Berlin einen Vortrag zum Thema „Ist Harmonie Gewalt?“ hält, immer läuft es auf dasselbe hinaus: „Aktenkundig – Die Sache mit B.“. Das hat etwas von einem Zwangscharakter und nervt gründlich. So wie Schädlich einst die Staatssicherheit drüben, so ist sie ihm heute hier allgegenwärtig: worüber auch gesprochen wird, Schädlich mit seinen Akten hat die Moral der Geschichte stets zur Hand.

B. ist der literarische Deckname für B(ruder) und ist eigentlich der leibliche Bruder von Hans-Joachim Schädlich. In Schädlichs Erzählung treffen beide, der literarische Deckname und der leibliche Bruder zusammen und bilden die Figur des Verräters: „B.“. Ich – am Rande bemerkt – finde Stasi- Decknamen wie „Schädling“ für Schädlich witziger als „B.“ für Bruder, und Müller als „Zement“ ist fast schon geniale Stasi-Poesie. Aber das ist (wie einst FJS' Bezeichnung der Dichter als „Ratten und Schmeißfliegen“) eine ästhetische Frage und unterliegt im politisch-moralischen Diskurs dem Mechanismus der Ausschließung. Also: Witzig meint Schädlich seine „Sache mit B.“ nicht, statt dessen existentiell und literarisch, weil der Nächste, der ihn verriet, sein großer Bruder war.

Eine Parabel wird damit Wirklichkeit, die biblische Geschichte vom Verräter. Um erzählbar zu werden, mußte sie erneut zur Parabel gerinnen, aus dem Bruder wird „B.“: „Das war ein Gefühlsmatsch, mit dem ich nicht zu Rande kam. Deshalb mußte ich professionell werden. Die Vogelperspektive auf die Sache mit B. erst hat mir die Geschichte erträglich gemacht.“

Schädlichs Vogelperspektive wirft ein Licht auf eine kleine DDR-Familie, wo der größere Bruder den Vater liebt und der kleinere Bruder den größeren. Der Vater stirbt. So tritt der größere Bruder Schädlich zum kleinen Bruder Hans-Joachim an Vaterstelle, was für beide ein erhebendes Gefühl ist: „B. blickte stolz zu mir herüber und ich blickte stolz herüber zu ihm.“ Die Konstellation scheint solange stabil, bis eines Tages Hans-Joachim aufs Schreiben verfällt und sich „eine Vielzahl von Leuten für seinen Verfall“ zu interessieren beginnt.

Zu diesen Leuten gehört „B.“, der seinen Bruder von Staats wegen bespitzelt. Psychologisch läßt sich das als Rückfall in die ursprüngliche Konstellation verstehen: der kleinere Bruder liebt den größeren, und der größere Bruder liebt Vater Staat. So lief das, Schädlich d.J. wird ausgebürgert, und zwölf Jahre später wird die Sache aktenkundig und öffentlich: Schädlich erzählt sie – zuletzt nun, am Dienstag, anläßlich der Vorlesungsreihe „Ist Harmonie Gewalt?“.

Die Frage, wie das eine mit dem anderen zusammenhängt, also Schädlichs Erzählung mit dem Veranstaltungsthema, wagte keiner zu stellen. Bekenntnisliteratur bedarf keiner Fragen – schon gar nicht, wenn ihr Autor, der „kleine Bruder“, je schon auf der richtigen Seite steht und ungerührt verharren kann in moralischem Rigorismus und ästhetischer Abwehr: „Es steht niemandem zu, einer Demokratie Vorschriften zu machen über das, worüber sie nachdenken darf und worüber nicht.“

„Es regt sich ein Abwehrinstinkt, ,denn, wer das Schmutzige anfaßt, den besudelt's.‘ Eines scheint gewiß zu sein: Der Schmutz und Gestank des DDR-Staatssicherheitsdienstes – das bleibt.“ Kaum vorstellbar, daß es bei der Stasi so dreckig zuging: oder ist das hier nur metaphorisch gemeint?

Mit Sudel-Symbolik als dem hervorstechenden Mittel politischer Abgrenzungs- und Identitätsbildungsmanöver, beschäftigte sich zwei Tage später Helmut Hartwig, Professor für Ästhetische Erziehung an der Hochschule der Künste, anläßlich des zweiten Vortrags der Reihe „Ist Harmonie Gewalt?“. Fast klang es wie eine Antwort auf Schädlich: ein Plädoyer für die minimalistische Ethik des Abfalls gegen die große Tendenz auf Demokratümelei und die Heilsgemeinschaft von „kleinen Brüdern“.

Harmonie ist Gewalt – dieses musikalische Diktum Adornos läßt sich nach Hartwig heute nicht minder apodiktisch auf die Phänomene der politischen Kultur übertragen. In seiner sprachanalytischen Perspektive auf die bundesdeutsche Wirklichkeit verknüpfen sich Horst Buchholz' Aufruf zum sprachlosen Lichterreigen mit Kanzleramtsreden zum sauberen Deutschland und mit neonazistischem Ausländerhaß: als drei Seiten einer gleichen Sehnsucht nach Sauberkeit, Eindeutigkeit, Authentizität, nach der eigenen Meinung im Guten und Ganzen und nach moralischem Rigorismus. Diesem „unendlichen Regreß auf Säuberung“, den Helmut Hartwig derzeit auf allen Feldern im Gang sieht, stellt er in vorausschauendem Rückblick das Projekt der siebziger Jahre entgegen: die Rettung des Unreinen, der Bastard- und Bruchkultur.

Mit seiner engagierten Rede am Faden der laufenden Ereignisse erntete der Prof mit grauer Hippiemähne, was er gesät hatte: eine turbulente Diskussion und zahllosen Widerspruch.

Läßt sich die schöne Dichotomie von Bruch-, Gegen-, Mischkultur versus Identitätssehnsucht heute so noch in der Wirklichkeit feststellen? Was ist zu halten vom Skin, der seinen Generationskonflikt in totalitäre Sprache ummünzt – gehört er zur Identitäts- oder zur Bruchkultur? Läßt sich Multikulti ohne den Streit symbolischer Fundamentalismen überhaupt denken? Wird die weiße Magie der Frau und die schwarze Magie des Mannes in ihrer Mischkultur schwarzweiß oder grau? Je konkreter die Fragestellung, desto erregter der Streit... und manch einem verblüfften Spaziergänger wehten noch spät nachts erregte Gesten aus dem Steinplatzcafé zu: Das waren Max Faust, Olaf Steinhaus und Helmut Hartwig im erregten Disput, ob denn wohl die „Böhsen Onkelz“ auf ein grünes Friedenskonzert gehören.

Organisiert wird die Vortragsreihe „Ist Harmonie Gewalt?“ von Peter Krasemann, Forschungsstelle „Kommunikation zur Förderung der Friedensfähigkeit“. Die nächsten Vorträge der interdisziplinären und semesterübergreifenden HDK-Veranstaltung sind am 26.1. (Horst Petri), 27.1. (Hans-Peter Dürr) und 28.1.(Rolf Szymanski) zu hören.