Die Einwegflasche füllt nun der Kommerz

Was nach 15 Jahren rundfunkpolitischer Wende aus dem Medium Radio geworden ist  ■ Von Hans J. Kleinsteuber

Vielfach war es gescholten worden, das alte Dampfradio der 70er Jahre. Geprägt von der Schwerfälligkeit eines öffentlichen Angebotsmonopols, gewannen ihm die Kritiker meist nur Schlechtes ab. Christoph Busch, einst Vorkämpfer für ein Freies Radio, beschrieb es 1981 wie folgt: Eine Einwegflasche, von Experten gefüllt und nach bewährtem Rezept etikettiert. Der professionelle journalistische Filter sorge dann für die Einhaltung des Reinheitsgebots der Ausgewogenheit. Der Verbraucher könne nur noch entscheiden: saufen oder nicht saufen.

Das Radio hielt man in der Bundesrepublik lange Zeit nur in seiner öffentlich-rechtlichen Spielform für möglich: betulich und seriös, professionell und altväterlich, ein wenig von oben herab betrieben. Heraus kam dabei so etwas wie ein integratives Vollprogramm, bei dem selbst den flottesten Wellen noch politische Hintergrundmeldungen und ein wenig Bildung aufgesattelt wurden. Das gelang halbwegs qualitätsvoll, obwohl die großen Parteien zumindest die Schlüsselpositionen fest in ihrem Griff hielten. Ein reiner Parteifunk war es dennoch nie, schon weil der Hörfunk den Politikern in den letzten Jahren angesichts der Omnipotenz des Fernsehens zu unwichtig geworden war.

Das alte Radio war auch ein ausgemachter Kulturfaktor: Ganze Bataillone von Mitarbeitern und Autoren schrieben Texte für die zahlreichen Wortbeiträge in Gelehrten- oder Plattdeutsch, im Schul- oder Frauenfunk. Ein Werbemedium war dieses „alte“ Radio nur nachrangig. Zwar waren die jeweils populärsten Wellen früh mit einiger Werbung bepackt worden. Aber allen Beteiligten war dies eher peinlich, Werbung wurde – sehr zum Leidwesen ihrer Auftraggeber – als Fremdkörper gehandelt und nur gering dosiert dem Hörer zugemutet.

Das alte öffentliche Dampfradio mag heute Gegenstand nostalgischer Erinnerung sein. Vor etwa 15 Jahren, als die große Medien- Wende eingeläutet wurde, ließen seine Kritiker kein gutes Haar mehr an ihm. Im Ohr klingen noch die pseudo-fortschrittlichen Worte des damaligen medienpolitischen Sprechers der CDU, Dieter Weirich, der eine „Chance für den lokalen Bürgerfunk“ forderte und die griffige Formel aufstellte, „so viel Vielfalt wie möglich, so wenig regulative Beschränkung wie nötig“.

Diese neue Vielfalt sollte die angebliche öffentlich-rechtliche Einfalt beenden. Die semantischen Medienwender der 80er Jahre taten so, als wäre das Kommerzradio ein besseres öffentliches, nur ein wenig lokaler und bürgernäher, dazu flexibler und frei von den unsäglichen „Rundfunkbeamten“.

In die heimelige Privatsphäre verlegt

Allenfalls die Finanzierung, so hieß es, regele sich ein wenig zeitgemäßer: Werbespots statt Gebühren. Mit harsch klingenden Landesmediengesetzen wurde zudem suggeriert, daß man die Entwicklung unter strenger Aufsicht halten werde. Etikettiert wurde das Endprodukt mit dem anheimelnden, aber letztlich irreleitenden Begriff eines „privaten“ Radios. Bei soviel Verschleierung mußte Weirich fürstlich belohnt werden: Er wurde gutdotierter Intendant der öffentlich-rechtlichen Deutschen Welle.

Das von der Politik semantisch in die Privatsphäre verlegte Radio konnte umso ungenierter von den größten der Branche geschluckt werden. So sind Springer, Bertelsmann, Holtzbrinck und Co. vielfältig und oft in phantasievollen Verflechtungen untereinander zu den Eignern der attraktivsten Radiolizenzen geworden. Woran das lag? Bestimmt nicht an der Zahl der Bewerber, denn die gab es überall reichlich. Eher schon unterstellte man den Größten der Branche, daß sie die Finanzen und das Know-how hätten, um die anfängliche Durststrecke durchzustehen. Letztlich ein Argument, mit dem bereits vorhandene Marktmacht belohnt und ein medienpolitisches Gegensteuern unterbunden wurden.

Auch war die Lizenzvergabe ein Kotau der regierenden Landespolitiker vor den potentesten Meinungsmachern in ihrer jeweiligen Region. Denn trotz aller Privatisierung blieben die ungeliebten Parteien auch in der neuen Radio-Ära präsent. Der Prozeß der Lizenzvergabe war niemals aus der Regie der Landesfürsten entlassen worden. Fast überall schickten die Ministerpräsidenten ihre ehemaligen Rundfunkreferenten oder andere Karrierepolitiker, jedenfalls engste politische Mitarbeiter in die neugegründeten, ihrem Anspruch nach gänzlich unabhängigen Aufsichtsbehörden, die Landesmedienanstalten. Regierende Politiker sind halt sehr sensibel, was die Medien in ihrem Verantwortungsbereich betrifft. Dabei wissen selbst sie manchmal nicht mehr genau, wer in ihrem Fürstentum genau die Eigner einer Station sind. Angesichts immer neuer Verschachtelungen, Hintermänner und treuhänderisch gehaltenem Kapital ist der tatsächliche Konzentrationsgrad im Lande kaum mehr zu ermitteln.

Standortpolitik mit Kirchturmhorizont

Im einzelnen erfolgte die Lizenzvergabe nach bestem Föderalprinzip, nämlich zwischen Standortpolitik und Kirchturmhorizont. Im Norden der Republik (und auch in den neuen Bundesländern) setzte man auf Länder-Networks. Angesichts der so entstehenden großen Sendegebiete wurden Radio Schleswig Holstein (RSH) und Funk und Fernsehen Niedersachsen (ffn) alsbald hochprofitabel. Der versprochene lokale Bezug, mit dem die neuen Radios einst angetreten waren, verkrüppelte freilich. Im Süden, in Bayern und Baden-Württemberg, setzte man dagegen auf echte Lokalstationen. Viele dieser Stationen mit begrenztem Einzugsgebiet haben Schwierigkeiten beim Überleben, manche haben schon dicht gemacht. In Bayern wurde der Überlebenskampf noch härter, als man ein landesweites Programm Antenne Bayern zuließ, das – anders als viele Lokalstationen – wiederum von großen Verlagshäusern dominiert wird.

Eine besondere Spezialität dachte sich Nordrhein-Westfalen aus. In der korporatistischen Tradition dieses Landes band die SPD Zeitungsverleger und örtliche Radioinititativen in einem komplizierten Zwei-Säulen-Modell von Lokalstationen zusammen. Im Austausch für die Abgabe einiger Sendezeit an nichtkommerzielle Radiomacher erhielten die Anbieter, fast immer die örtlichen Zeitungsverleger, ein lokales Monopol. Oder präziser gesagt, in vielen Fällen ein örtliches Doppelmonopol aus Tageszeitung und Radiostation – wovor schon das Bundesverfassungsgericht gewarnt hatte.

Das neue Radio ist – ökonomisch gesehen – nichts anderes als eines dieser kostenfrei in den Briefkasten gesteckten Anzeigenblätter, nur eben gefunkt. Ein kommerzielles Radio lebt von der Zuhörermaximierung, daher sind die hörerstarken Sendegenehmigungen auch die gewinnträchtigsten. Länderweite Netze und auch wattstarke Stationen in den Millionenzentren bringen gutes Geld, die werbewirtschaftlich uninteressante Provinz bleibt auch weiterhin unterversorgt. Kommerzialität heißt zudem, daß Programme mit wenigen Leuten gefahren werden, oft mit geringer Ausbildung und beschäftigt als schlechtbezahlte freie Mitarbeiter. Inbesondere mit von außen eingespeisten Programmteilen werden Redaktionen klein gehalten. Lokalbezug wird dem Hörer mitunter nur noch vorgegaukelt. Große journalistische Sprünge lassen sich unter diesen Bedingungen nicht machen.

Eigentlich sollten ja die Landesmediengesetze den Kommerzfunkern Korsettstangen einziehen, sie auf ein breites und pluralistisches Vollprogramm festlegen. Wer sich in eine beliebige Station einschaltet, wird eines besseren belehrt. Sie unterscheidet sich in nichts mehr von einer typischen Kommerz-Station in den USA. Kein Wunder, denn viele der guten Ratschläge kommen von hochbezahlten, die Bundesrepublik durchstreifenden amerikanischen Consultants.

Ein Musikteppich bildet die Grundlage, ein Plaudertaschenmoderator sorgt für lockere Sprüche oder treibt harmlose Spielchen mit den Zuhörern. Nachrichten sind kurz und mit soft news durchsetzt, mancherorten sind sie schon mit Musik unterlegt oder ganz verschwunden. Um die Kosten für die im Vergleich zur Musik teuren Wortbeiträge niedrig zu halten, bieten spezielle Agenturen wie dpa-audio oder die Rufa-Nachrichtenagentur ihre Dienste an: Da wird nur noch verlesen oder eine Kassette eingelegt. Die meisten Wortbeiträge werden auf maximal „Einsdreißig“ gehalten, so meint man, den nebenbei Radiohörenden nicht unnötig zu belasten.

Konkurrieren an einem Ort mehrere Stationen, so wählen sie inzwischen nach US-Muster ein Musikformat: Mode-Pop für die Kiddies, Easy Listening für die mittlere Generation, Oldies und deutsche Schnulzen für die Älteren. So fordert es die werbende Wirtschaft, der es um möglichst präzis definierte Zielgruppen geht, um Streuverluste bei ihren Spots zu vermeiden.

1,3 Prozent wollen einen Rasenmäher kaufen

Längst wissen die Marketing-Experten der Stationen weit mehr von uns Hörern als umgekehrt: Die traditionelle Hörerforschung der öffentlichen Anstalten interessierte sich noch vieldimensional für den Menschen am Lautsprecher und seinen Bedürfnissen. Die neuen Kommerzradios beruhen vor allem auf präziser Marktforschung. Eine Kostprobe, wie in Hamburg im Jahre 1992 der Konsument durchleuchtet wird: Infratest erhob dort, daß 8,4 Prozent derer, die in der Hansestadt Fitneßstudios besuchen oder Bodybuilding betreiben, mit dem Sender RHH zu erreichen sind, aber nur 4 Prozent derer, die Häkeln und Stricken. Bertelsmanns Klassik Radio erreicht 0,1 Prozent derer, die in den nächsten 12 Monaten die Anschaffung eines Oberklasse- Wagens planen und OK-Radio 1,3 Prozent derer, die dasselbe bei einem Rasenmäher ins Auge fassen. Nun kann die Werbung genau disponiert werden.

Sicher treten die öffentlichen Anbieter mit dem Anspruch auf, ein Korrelat zum puren Kommerz darzustellen. Aber können sie das heute noch? Jeweils mindestens eine der Frequenzen wurde auf den „Werbestrich“ (Funkhausjargon) geschickt und konkurriert mit viel Musik, gefälligem Angebot und häufigen Spots unmittelbar gegen die neue Konkurrenz. Dabei haben sie Erfolg, das klassische öffentliche Profil geht freilich verloren. Andere Kanäle wurden indes mit den abgedrängten Wortprogrammen aufgefüllt und erhalten kaum mehr Einschaltungen. Ein fairer Wettbewerb unter Gleichen ist unter diesen Bedingungen nicht möglich. Spätestens, wenn die Öffentlich-Rechtlichen wieder eine Gebührenerhöhung benötigen, werden sie mit einer schweren Finanzierungskrise konfrontiert sein.

Ein eigentümlich deutscher Gegensatz

Der geschilderte Lizenzsegen für die großen Verlagshäuser der Republik steht in eigentümlich deutschem Gegensatz zur Zahl eines anderen Typus privater Stationen, der schon von Christoph Busch geforderten nichtkommerziellen Anbieter. Nicht nur in der Bundesrepublik, fast überall in Westeuropa sind in den 80er Jahren Kommerz- Stationen hochgezogen worden – aber parallel dazu blühten auch Sender auf, die in bewußter Ablehnung des Kommerz-Prinzips ein ganz anderes Programm machen. Stationen dieses dritten Typs heißen „Naerradio“ in Skandinavien, „radio associatif“ in Frankreich, „lokale omroep“ in den Niederlanden etc. Sie stützen sich auf örtliche Initiativen von Radioenthusiasten, von Leuten, die – ganz im Sinne von Brechts Radiotheorie – selber Radio machen wollen. Sie wissen, das Radio ist heute das ideale partizipative Medium: Es vermag bei geringen Kosten für Sender und Studio eine Lokalität mit Informationen zu versorgen und es stellt geringe Anforderungen an die Professionalität dessen, der es nutzt. Tatsächlich gibt es heute in der Welt Tausende von Stationen, die Vereinen, Stiftungen, Universitäten, Kommunen gehören und die ein vielleicht nicht sehr routiniertes, aber immer buntes bis chaotisches Programm anbieten.

Die Bundesrepublik zeigt in dieser Hinsicht nur Einöde. Die Ausnahme: Ein Vollzeitprogramm dieser Art bietet seit einigen Jahren Radio Dreyeckland aus Freiburg, aufbauend auf die französische Tradition des radio libre. In Nürnberg funkt RadioZ aus einem winzigen Studio und wurde zum Nukleus der dortigen Alternativszene. In Nordrhein-Westfalen dürfen örtliche Radiomacher in zumeist sendeschwachen Zeiten beim Kommerzfunker ein wenig mitmachen. Ansonsten sind Interessierte mit ihren Initiativen und Lizenzanträgen von Hamburg (Radio St. Pauli) bis Erfurt (Freies Radio Erfurt International, F.R.E.I.) immer wieder von den Verantwortlichen abgewiesen worden. Nur als Merkposten: In unserem Nachbarland Dänemark gibt es fast dreihundert „Naerradios“, in den Niederlanden etwa zweihundert Lokalstationen. Die an Watt schwachen Frequenzen für derartige Stationen sind allemal vorhanden. Ironischerweise könnte die alle Radiopolitik dominierende Rundfunkindustrie sogar zum potentiellen Verbündeten werden. Denn jede nichtkommerziell vergebene Lizenz läßt ihren Werbekuchen unangetastet, hält also unmittelbare Konkurrenten fern.

Die Zukunft des Radios? Als derzeit einschaltungsstärkstes Medium mit zwei Stunden und 50 Minuten Nutzung pro Tag (Fernsehen: zwei Stunden und 15 Minuten) muß es sich eigentlich keine Sorgen machen. Als nebenher gehörte Quelle von Musik und zurückhaltend dosierter Information wird es unentbehrlich bleiben. Damit es zukünftig seine Chance wahren kann, arbeitet sehr emsig ein ganzer Industrieverbund, zusammengeschlossen in der DAB- Plattforme.V. In ihr sind wie in einem Who's Who die Größen der mitteleuropäischen Radioszene zusammengeschlossen, die Gerätehersteller, Wirtschaftsverbände, die öffentlichen und kommerziellen Anbieter und auch die Post. Gezielt informiert die Plattform die Öffentlichkeit mit hochglanzkaschierten Prospekten voller Versprechungen.

Digitalradio für Autobahn und Autowahn

Ab 1995 soll das Radio in Form des Digital Audio Broadcasting (DAB) mit digitaler Technik aus der Antenne und in CD-Qualität revolutioniert werden – reichlich bestückt mit europäischen Geldern aus der Eureka-Technologieförderung. 15 Jahre dauert dann die Galgenfrist für das alte UKW- Dampfradio, so lange wird nämlich in zwei Standards gefunkt („Simulcast“), im Jahre 2010 werden alle UKW-Sender abgeschaltet. Wer sich dann immer noch DAB verweigert, bleibt ohne Hörfunkversorgung. – Begeistert von DAB ist jetzt schon die Autolobby. Es wird ein absolut störungsfreier Empfang im Fahrzeug garantiert, zudem wird Extraraum für die Übertragung umfassender Verkehrsleitinformationen in die Technik eincodiert. Wer hier den Eindruck erhält, daß sich hier ein eingeschworener Zirkel daran macht, an der Öffentlichkeit vorbei vollendete Tatsachen zu schaffen, liegt wohl nicht ganz falsch. An besagter Plattform sind keine Parlamentarier beteiligt, schon gar nicht Konsumenten, Gewerkschafter oder industrieunabhängige Wissenschaftler. Wo keine Einzelheiten bekannt sind, ist naheliegenderweise keine Technikfolgenabschätzung möglich. Nur eines ist sicher: Alle seit 1950 gebauten UKW-Empfänger werden nutzlos. Die Industrie wird mit Freuden für Nachschub sorgen.

Keine Frage, wenn es so weitergeht, werden wir alle Opfer einer Medienpolitik, bei der die Industriellen und Techniker das Sagen haben. Um zu retten, was zu retten ist, sollte man wenigstens den Bürgern die Chance geben, sich dieses aufregende Medium durch Selbermachen und eigene Erfahrung zu erschließen. Dann würde deutlich, welche ungenutzten Potentiale in Richtung Bürgernähe und Kleinraumversorgung im Radio stecken.

Der derzeitige Trend weist leider immer noch in die Gegenrichtung, wie das Beispiel Verkehrsleitinformationen zeigt. Während man das Autozeitalter gerade für überwunden hält, tüfteln Experten, wie die Mobilität des Autos noch einmal per Radio gerettet werden kann. Das kennen wir doch: Der zu Beginn der 70er Jahre eingeführte „Verkehrsfunk“ war schon bisher ein umgeschwindelter Autofunk. Mit dem an DAB gekoppelten Verkehrsleitsystem wird das Radio zum letzten Rettungsanker des Autowahns.

Es wird offensichtlich, was Kommunikationsökologen schon immer wußten: Umwelt- und Medienverschmutzung gehen Hand in Hand. Die großartige Chance, die derzeitige Einwegflasche Radio umweltfreundlich auf den Mehrweg zwischen Machern und Hörern zu schicken, bleibt wieder einmal vertan.

Hans J. Kleinsteuber ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Hamburg und Leiter der Arbeitsstelle „Politik und Medien“. Jüngste Veröffentlichungen: „EG-Medienpolitik“ (Berlin, 1990 etal.), „Radio und Fernsehen in der Bundesrepublik“ (Köln, 1990 et al.), „Radio – Das unterschätzte Medium“ (Berlin 1991).