Liebe Schüler-betr.: "Lehrer verhöhnte Juden", taz vom 14.1.93

betr.: „Lehrer verhöhnte Juden“, taz vom 14.1.93

Bravo! Gut gemacht! Da habt Ihr ganz hervorragend gezeigt, was solidarisches Verhalten bewirken kann: nämlich glaubhafte Infragestellung einer staatlich legitimierten, in der Person des Lehrers auftretenden Ansammlung von institutioneller Gewalt und pädagogischer Verantwortung – ja sogar Entzug dieser Existenzgrundlage. Eine ähnliche Art kollektiver Betroffenheit kann bekanntlich geballte Leuchtfeuer der Nächstenliebe entzünden, freilich politisch unwirksame.

Aber warum ein schlechter „Witz“ eines sicherlich verantwortungslos handelnden Lehrers dessen Entlassung nach sich zieht, eine Neujahrsansprache des Bundeskanzlers hingegen, welche deutsche Intoleranz und dessen rassistische Ausformungen verschweigt (totzuschweigen ist sie leider nicht), lediglich emotionalisierte Massen zu Gratis-Rockkonzerten und unverbindlichen Betroffenheitskundgebungen mobilisiert (wie schön: eine pazifistische Mobilmachung!), verstehe ich noch nicht ganz. Solidarisch konstituierte Macht kann man doch auch anders ausüben! Zum Beispiel könnte man, ehe ein juristisches Verfahren eingeleitet wird, nachdrücklich zu einem rationalen Diskurs über das Selbstverständnis solcher Menschen bezüglich ihres Lehrerberufes auffordern. Vielleicht könnte man sich vernünftig über die politischen Bedingungen rassistischen Massenwahns verständigen, sowohl hinsichtlich der deutschen Vergangenheit wie Gegenwart als auch bezogen auf die Fundierung derartiger Bewußtlosigkeit im kapitalistischen Gesellschaftssystem. Vielleicht wäre es sogar möglich, Zusammenhänge aufzuzeigen zwischen Verdinglichungs- und Entfremdungsmechanismen der heute viel zu unkritisch reproduzierten marktwirtschaftlichen Gesellschaftsorganisation und schulischer Wissensverdinglichung bzw. Entfremdung der Lehrer (und Schüler) von ihrer Tätigkeit und daraus resultierendem verantwortungslosem Handeln.

Am Ende, liebe Schüler (hoffentlich nicht an Eurem Lebensende), würdet Ihr vielleicht feststellen, daß ein antisemitischer „Witz“ nur die Spitze eines latent unter der Oberfläche (bewußtlosen Gesellschaftsbewußtseins) gefrierenden Eisblocks ist, an dem Ihr selber haftet. Entlassung eines schlechten Lehrers garantiert keinesfalls die Sicherheit, daß diejenigen Pädagogen, welche sich als fachliche Größen, nicht als lebendige Menschen verstehen und sich über solche Witze insgeheim amüsieren oder schlechter noch: welche zynischen Spott über Euch „doofe“ Schüler im Lehrerzimmer anerkannt initiieren, ihr Berufsverständnis nachhaltig reflektieren werden. Demokratische (Ab-)Wahlen verändern strukturell nichts. Nachdenken dagegen, vielmehr: vordenken, verändert etwas, denn es gibt solidarischem Verhalten einen gesellschaftsfähigen Sinn! Kai Lehnhoff, Herne

P.S.

Liebe Lehrer,

wenn Ihr es nötig habt, lest meinen Brief an die Schüler. Dazu noch zwei Zitate aus dem Buch „Das Prinzip Hoffnung“ von Ernst Bloch: „Isoliert gefaßte und so festgehaltene Vergangenheit ist eine bloße Warenkategorie, das ist ein verdinglichtes Factum ohne Bewußtsein seines Fieri und seines fortlaufenden Prozesses.“ „Denn das nur betrachtende Wissen bezieht sich notwendig auf Abgeschlossenes und Vergangenes, es ist hilflos gegen Gegenwärtiges und blind für die Zukunft. Ja es kommt sich desto mehr als Wissen vor, je weiter zurück seine Gegenstände im Vergangenen und Abgeschlossenen liegen, je weniger es also dazu beiträgt, daß aus der Geschichte – als einer in Tendenz geschehenen – für Gegenwart und Zukunft etwas gelernt werde.“