Nur der Himmel kümmert sich um uns

Für die Iraker ist das Leben nach über zwei Jahren Wirtschaftsblockade zur Hölle geworden/ Dennoch gibt es keine ernsthaften Anzeichen von Opposition gegen das Regime von Saddam Hussein  ■ Aus Bagdad Henri Heron

„Einen solchen Winter haben wir seit langem nicht erlebt“, sagt der Taxifahrer, während er den Wagen durch die überschwemmten Straßen Bagdads zum Freitagsmarkt steuert. Die kriegerischen Ereignisse der letzten Tage kann er nur zwei Jahre nach dem Golfkrieg nicht meinen. Nein, er redet vom Wetter. Seit Tagen hat es unaufhörlich geregnet. Nicht nur in der irakischen Hauptstadt sind die Straßen überschwemmt. In manchen Orten müssen die Leute Boote benutzen, um sich fortzubewegen. „Aber es liegt nicht allein am Regen“, nimmt der Fahrer das Gespräch wieder auf und kommt nun doch auf das allgegenwärtige Thema zu sprechen, „es liegt am Krieg. Das Regenwasser kann nicht ablaufen, denn die Kanalisationssysteme sind zerstört, und die Regierung hat sie bislang nicht reparieren können. Aber vielleicht ist es ein Geschenk des Himmels, das viele Wasser, außer ihm kümmert sich ohnehin niemand mehr um uns.“

Auf dem Markt, dem Souq al Guma'a, versammeln sich jeden Freitag Tausende von Leuten, um alles zu verkaufen, was sie irgend entbehren können. Hier unterscheidet man nicht zwischen Reich und Arm, sondern nur zwischen den verschiedenen Stadien der Verarmung, die durch einen Blick auf die Füße der Anwesenden leicht erkennbar sind. Manche laufen barfuß durch die Abwässer, andere tragen immerhin noch die billigen Hausschuhe aus Plastik oder vollkommen abgetretene Schuhe, die immer wieder geflickt wurden. Nur wenige Anbieter fallen dadurch auf, daß ihre Schuhe noch in guter Form sind. Einer von ihnen ist zu schüchtern, um Namen und Beruf zu nennen. Er schämt sich, daß er hier stehen muß. Er bietet „Lucky“ zum Verkauf an, einen kleinen braunen Hund, der bibbernd vor ihm auf dem Boden hockt. „Es hat meiner kleinen Tochter sehr weh getan, aber vielleicht hat Lucky bei einer anderen Familie Glück, die ihn noch füttern kann“, sagt er leise. Ein paar Meter weiter sitzt ein mageres kleines Mädchen. Sie hat die Beine eng an den Leib gezogen und haucht ununterbrochen in die kleinen Hände, um sich die blau gefrorenen Finger zu wärmen. Ihre nackten Füße sind in Zeitungspapier gewickelt. Vor ihr liegen die Waren, die die Kleine anzubieten hat: zwei violette Haarspangen aus Plastik. Einen halben Dinar will sie dafür haben, soviel kostet ein halbes Brötchen, sagt sie. Als ich sie nach ihrem Alter frage, bekommt sie einen Weinkrampf. „Sie ist nicht älter als vier“, sagt die Frau neben ihr, „und Du hast sie mit Deiner Fragerei erschreckt. Ich bin alt genug, Dir alles zu erklären. Sie macht einfach ihre Eltern nach. Ich habe auch zuerst mein Gold verkauft, dann meine Möbel, und jetzt schau, was mir zum Verkaufen geblieben ist.“ Sie zeigt auf eine schwarze Abbaya, den traditionellen Winterumhang. „Ich habe zwei davon und habe mir gesagt, überleben kann ich auch mit einem“, fügt sie hinzu. „Den anderen Leuten hier geht es auch nicht besser. Schau Dich um. Sie verkaufen ihre Kleider und ihre Matratzen.“ Für ihre Abbaya verlangt die Frau 25 Dinar. Dafür will sie drei Kilo Kartoffeln kaufen, um ihre siebenköpfige Familie über die nächsten Tage zu bringen. „Der Verbrecher Bush und seine Blockade sind für unsere Misere verantwortlich“, redet sie sich in Rage. Die Leute, die uns während des Gesprächs sogleich umringen, stimmen ein und stoßen Verwünschungen gegen den Bush aus. „Der Kindermörder, der die Iraker haßt“ ist noch eine der schwächeren Formulierungen, die fällt.

So enden die meisten Gespräche, die man in diesen Tagen mit den BewohnerInnen der irakischen Hauptstadt beginnt. Die seit über zwei Jahren anhaltende Wirtschaftsblockade hat den IrakerInnen das Leben zur Hölle gemacht. Es ist schwer, hier jemanden zu finden, der von den Folgen der Sanktionen nicht betroffen wäre. Die Preise für Nahrungsmittel sind in astronomische Höhen geklettert und steigen immer weiter. Für ein Kilo Fleisch zahlt man mittlerweile 75 Dinar — etwa ein Drittel des Gehalts eines Angestellten im öffentlichen Dienst, ein Hähnchen kostet 50 Dinar. Die Preise für Zucker, Mehl und Reis haben sich im letzten halben Jahr vervierfacht. Die meisten IrakerInnen, insbesondere Kinder, zeigen nach Auskunft von Ärzten Symptome von Unterernährung. 1992 sind nach Schätzungen des irakischen Gesundheitsministeriums 200.000 Menschen an den mittel- und unmittelbaren Folgen des Embargos gestorben, ein Drittel von ihnen Kinder. Sie sind verhungert oder litten an Krankheiten und Mangelerscheinungen, die unter den gegebenen Umständen nicht wirkungsvoll bekämpft werden konnten.

Wer noch bei Kräften ist, hat alle nur erdenklichen Schwierigkeiten beim täglichen Kampf um die Aufrechterhaltung von ein bißchen Normalität. Der Versuch, auf dem Rückweg zum Hotel einen Bus zu nehmen, ist aussichtslos. „Es ist seelische Folter“, sagt Maha, eine Studentin, die in einer großen Menschentraube an der Bushaltestelle steht, „mein täglicher Irrweg zur Universität dauert mehrere Stunden. Niemand weiß, wo und wann die betreffenden Busse fahren, und Service-Taxis können sich viele nicht mehr leisten.“ Der Mangel an Ersatzteilen, auf deren Import der Irak angewiesen ist, hat zu einem Zusammenbruch des öffentlichen Nahverkehrs geführt.

„Wer sich einbildet, daß er die Iraker zum Widerstand gegen Saddam Hussein aufhetzen kann, indem er sie aushungert, ist entweder ein Träumer oder hoffnungslos dumm“, faßt ein irakischer Journalist später in der Hotellobby die Lage zusammen. „Natürlich fragen sich die meisten Iraker, was der Westen eigentlich von uns will. Vor zwei Jahren haben wir uns aus Kuwait zurückgezogen. Die irakische Regierung hat sich unter Bedingungen auf einen Waffenstillstand mit den Alliierten einlassen müssen, die als so demütigend empfunden werden, daß Saddam Hussein sich den Spitznamen ,Herr Jawoll‘ eingehandelt hat.“

Für Außenstehende ist es schwer verständlich, daß die Loyalität zu Saddam Hussein nach den Erfahrungen der letzten beiden Jahre ungebrochen erscheint. Es sind vor allem die subventionierten Lebensmittel, auf die alle zum Überleben angewiesen sind, mit denen sich die Regierung Sympathien erkauft. Und es ist das erstaunliche Tempo, mit dem die staatlichen Behörden es nach dem Golfkrieg geschafft haben, zumindest den wichtigsten Teil der Infrastruktur wieder aufzubauen – in Bagdad betrifft das vor allem die Brücken, ohne die diese Stadt nicht existieren kann. Ebenso wurden die Staudämme und großen Straßen repariert, die Wasser- und Stromversorgung funktioniert leidlich. Das ist es, was vor allem in den Augen der BewohnerInnen des irakischen „Kernlandes“ zählt, in dem Gebiet also, in dem es während des Golfkrieges keinen Aufstand gegen Hussein gegeben hat. Es ist nicht die Liebe zum Diktator, es ist die Angst ums schiere Überleben, die viele Menschen Saddam Hussein als einzig möglichen politischen Führer betrachten läßt.

Das Tempo des Wiederaufbaus ist für viele IrakerInnen zum Allheilmittel gegen das Gefühl erlittener nationaler Kränkungen geworden. Stolz erzählen die ArbeiterInnen einer Milchpulverfabrik in der Nähe von Bagdad über ihre harte Arbeit, während sie mich in das Büro des Direktors begleiten. „Wir haben während der Blockade ungeheuer viel gelernt“, sagt einer von ihnen, „unser Selbstvertrauen ist gewachsen.“ Die durch den Streit über die Bombardierung ziviler Ziele im Golfkrieg berühmt gewordene Fabrik hat noch vor knapp zwei Jahren in Schutt und Asche gelegen. Mittlerweile hat sie die Produktion wieder aufgenommen. Ahmed Hassan, der Fabrikdirektor, lehnt sich sichtlich zufrieden in seinem Chefsessel zurück: „Wir haben Tag und Nacht gearbeitet. Wir hatten allergrößte Schwierigkeiten, vor allem wegen des Mangels an Baumaterial und Ersatzteilen. Aber unsere Ingenieure und Wissenschaftler haben die Probleme gemeistert.“ Die Fabrik ist die einzige ihrer Art im Irak. Früher produzierte sie zwölf Tonnen Milchpulver pro Jahr, heute sind es immerhin schon wieder drei Tonnen. Was weder der Fabrikdirektor noch einer der Angestellten erzählen, wird auf Umwegen und durch die Berichte von Leuten klar, die auf strikter Anonymität bestehen. In den Wiederaufbauprojekten arbeitet das Regime mit Zuckerbrot und Peitsche. Sogenannte „Sicherheitsgruppen“ kontrollieren die Arbeiter rund um die Uhr. Wer nicht zum Dienst erscheint oder zu langsam arbeitet, wird schwer bestraft. Andererseits werden den Arbeitern Höchstlöhne bezahlt: Sie verdienen schon für ungelernte Arbeit ungefähr das Fünffache eines staatlichen Angestellten, ein Ingenieur erhält diese Summe als Tageslohn. „Wirtschaft ist unsere Priorität“, erklärt ein politischer Funktionär selbstbewußt, „an dieser Front wird sich entscheiden, ob wir gewinnen oder verlieren. Der Kernpunkt unserer gegenwärtigen Wirtschaftspolitik ist die Privatisierung.“ Hinter vorgehaltener Hand geben Experten zu, daß sich das Regime eine Beschleunigung der ohnehin rasanten Preissteigerungen einhandelt, die durch Anwerfen der Notenpresse kompensiert werden soll.

Auch gegen den drohenden territorialen Zerfall des Landes hat das Regime von Saddam Hussein eine belohnende und bestrafende Doppelstrategie eingeschlagen: Die Armee ist unter dem eisernen Regiment von Hassan Al Majid gesäubert und reorganisiert worden. Soldaten und Offiziere erhalten die höchsten Löhne im Land, Schenkungen von Grundstücken und großzügige Kredite für Haus- und Wohnungsbau tun ein übriges. Parallel zur Drohung mit militärischen Aktionen sucht Saddam Hussein seine Beziehungen zum Süd- und zum Nordirak durch die Wiederaufnahme von Gesprächen mit den Kurden und durch Bestechung und Bewaffnung der schiitischen Stammesführer im Süden zu verbessern. An die Kurden erging kürzlich das Angebot, daß sie in Zukunft über die Hälfte des Öls aus der umstrittenen Region Kirkuk verfügen können, wenn ihre Führung den Dialog wiederaufnimmt, an die Schiitenführer wurden Millionen Dinar bezahlt.

„Wir haben das Schlimmste überstanden“, sagt der Parteifunktionär. „Bush, der Feind Nummer eins des irakischen Volkes, ist nicht mehr an der Macht. Wir sind sicher, daß jetzt das letzte Blockadejahr angefangen hat. Sie ahnen nicht, wieviele Geheimbotschaften uns die Leute geschickt haben, die offiziell nur durch Raketen und Bomben mit uns kommunizieren. Sie wollen doch vor allem mit uns ins Geschäft kommen. Wir müssen nur noch abwarten.“