Europas Bananen-Problem

In der EG laufen die Regionen seit Jahren wirtschaftlich auseinander – der Binnenmarkt verstärkt diese Tendenz/ Teil 12 der taz-Serie  ■ Von Erwin Single

José Maria Cuevas, führender Funktionär des spanischen Unternehmerverbandes, liebt einfache Erklärungen. Nach dem Ende des kurzen spanischen Wirtschaftswunders reduziert er das Problem seines Landes auf zwei Minuspunkte. „Wir müssen ganz einfach mehr arbeiten – und das zu tieferen Kosten“. Cuevas' Offenherzigkeit allein hilft freilich nicht, wenn die spanischen Firmen im Europäischen Binnenmarkt bestehen wollen. Und auch mit seinem Glaubensbekenntnis zu Arbeitszeiten wie in Japan, Lohn- und Preisvorteilen erntet der Verbandschef im Ausland meist fragende Blicke. Spaniens Wirtschaft, sagen die Experten, stecke in einer tiefen Strukturkrise — da hilft selbst das lang tradierte bürgerliche Arbeitsethos nicht viel. Wie fast überall in Südeuropa hoffen daher nicht nur Regierungschefs, Regionalfürsten, Gewerkschaftsführer und die Bevölkerung, sondern auch die Unternehmen auf neue EG-Strukturprogramme. Mit Hilfe der großzügigen Finanzgeschenke aus Brüssel, so kalkulieren die Wirtschaftsbosse, könne der Anschluß an die Industrieregionen im Herzen Europas gefunden werden.

Rund 20 Prozent der EG-Bevölerung lebt in sogenannten „strukturell rückständigen“ Regionen, in denen das Pro-Kopf-Einkommen um mehr als ein Viertel unter dem EG-Schnitt liegt. Sie liegen an den Rändern Europas – auf der Iberischen Halbinsel, in Griechenland, im Mezzogiorno Italiens, in Irland, im Norden Großbritanniens und neuerdings auch in Ostdeutschland. Seit bald zwanzig Jahren gibt es Strukturhilfen, nur gebracht haben sie allesamt bisher recht wenig. Seit Mitte der 70er Jahre flossen allein über 50 Milliarden ECU in die bedürftigen Regionen – doch das Gefälle zwischen den Regionen hat sich eher noch verschärft. Die Unterschiede zwischen Armutsgebieten und prosperierenden Regionen klaffen in Europa schon heute weiter auseinander als beispielsweise innerhalb der USA. In der EG sind die reichsten Regionen – dazu zählt das nördliche Italien, Süddeutschland, der Norden der Niederlande sowie die Regionen um Brüssel und Paris — um knapp das Dreifache reicher als die armen. Die Arbeitslosigkeit hat inzwischen die 13-Millionen-Grenze überschritten; der Abstand zwischen den Regionen mit hohen und niedrigen Arbeitslosenquoten beträgt mehr als 500 Prozent. Auch die wirtschaftliche Leistungskraft der EG-Mitgliedsstaaten fällt weit auseinander. So liegen etwa beim erwirtschafteten Bruttoinlandsprodukt zwischen Spitzenreiter Dänemark und Schlußlicht Portugal Welten – nämlich real fast 10.000 US-Dollar je Einwohner.

Einzig die Wachstumsphase der letzten Jahre hat verhindert, daß sich die einzelnen EG-Regionen ökonomisch noch weiter auseinanderentwickeln. Doch jetzt, wo die Volkswirtschaften Europas in eine Rezessionsphase schlittern, werden sich die vorhandenen regionalen Unterschiede noch einmal verstärken. Daß sich diese spätestens seit Anfang der 90er Jahre ohnehin keineswegs mehr im Gleichklang befanden, haben die jüngsten Währungsturbulenzen gezeigt. Die festen Wechselkurse der Zwölfergemeinschaft hatten einigen Regierungen als willkommenes Instrument gedient, mit dem es nicht nur vortrefflich gelang, ökonomische Schwächen zu kaschieren, sondern auch die regionalen Disparitäten in den Hintergrund zu verdrängen. Nach den ersten französischen Meinungsumfragen zum Maastricht-Referendum ließen sich die Devisenmärkte von der jahrelang vorgegaukelten Stabilität und Konvergenz jedoch nicht mehr täuschen: Die spanische, portugiesische und irische Währung wurde abgewertet; Lira und Pfund rasselten in jenen Keller, in dem sich auch ihre Volkswirtschaften befinden.

Nun klammern sich die Verantwortlichen an das Projekt Binnenmarkt. Auf die Gemeinschaft, so hatte der vom EG-Sonderbeauftragten Paolo Ceccini vorgelegte Bericht errechnet, wirke sich die Beseitigung der Wirtschaftsgrenzen insgesamt wohlstandsmehrend, wachstums- und beschäftigungsfördernd aus. Doch die prognostizierten positiven Wirkungen werden sich im EG-Raum ungleich verteilen. Profitieren werden zunächst einmal jene zentral gelegenen Regionen, in denen sich die wirtschaftlichen Aktivitäten durch eine gute Kapital- und Infrastrukturausstattung bereits in der Vergangenheit am besten entfalten konnten. Zwei Wachstumsregionen haben Experten in zahlreichen Studien ausgemacht: die „blaue Banane“ und den „Sunbelt“. Der erste Wachstumsgürtel, in dem die ohnehin hochentwickelten Regionen liegen, zieht sich von Südengland über die Benelux-Staaten, das Ruhrgebiet, die Rhein-Main-Zentren, den Elsaß und Baden-Württemberg bis nach Norditalien. Zum Sunbelt, einer jüngeren Entwicklungsregion, zählt Katalonien, das Rhone-Alp-Gebiet, Norditalien und ein Teil des EG-Anwärterlands Österreich. Während die Standorte innerhalb der „blauen Banane“ von ihrem bisherigen Leistungsniveau zehren, gelten die südlichen „Sunbelt“-Zonen durch die Ansiedlung forschungs- und entwicklungsintensiver Branchen und den hohen Freizeitwert als die wirtschaftlichen Kraftfelder der 90er Jahre. Zumindest die EG- Kommission hat aus diesen Prognosen Schlußfolgerungen gezogen: Um den armen Süden nicht weiter abdriften zu lassen, so die Kommissare, sei dort eine verstärkte sektorale Industriepolitik vonnöten, die den Ländern helfe, ihre altindustriellen Strukturen abzubauen und sich auf eine inter-industrielle Arbeitsteilung in Europa auszurichten. Daß das in der Übergangsphase nur über Dumpinglöhne möglich sein wird, darüber sind sich die EG-Bürokraten und der spanische Unternehmensverbandschef Cuevas ausnahmsweise einig. Schließlich haben Europas Großunternehmen Ende der 80er Jahre zügig Teile ihrer Produktion nach Spanien, Portugal oder Irland verlagert, um von den tiefen Lohnkosten zu profitieren.

Den Rest will der Südstaaten- Anwalt, Spaniens Regierungschef Felipe González erledigen. Nicht nur er fürchtet, daß der Lohnkostenvorteil bereits aufgezehrt sein könnte. Der Norden Europas ist mit sich selbst beschäftigt und läßt den Süden zunehmend im Stich.

Nicht zuletzt deshalb hat González schon in Maastricht die Grobarbeit erledigt: der von den Südländern und Irland geforderte Kohäsionsfonds wurde zähneknirschend akzeptiert. González handelte dabei nicht ganz uneigennützig: der Fonds sichert den Spaniern die Anwartschaft auf 60 Prozent der Kohäsionsmilliarden.