■ Schöner Leben
: Im Diskretionszonenrandgebiet

SCHÖNER LEBEN

Im Diskretions—

zonenrandgebiet

Noch nie war er so breitschultrig wie heute. Ja, er schien sich aufpumpen zu können. Sein Kopf war schon längst in dieser Mauerluke verschwunden, jetzt stießen seine Schultern ans obere Gesims. Seine Hände lagen schwer auf der Tastatur, seine Finger: wie ziellos. Endlich! Jetzt war er allein mit der Maschine. Jetzt konnte ihre Unterhaltung beginnen. Sein Ringfinger täuschte an, sein Daumen verwischte zum letzten Mal den Eindruck einer zielgerichteten Strategie, dann schlug sein Zeigefinger vier Mal hart und blitzschnell zu, für ein menschliches Auge nicht nachzuvollziehen. Viermal gab die Maschine diesen Piepston von sich, der noch zwei Blocks weiter zu hören war. Wohl wahr: Jeder wußte, was hier gespielt wurde. Aber in die Karten schaute ihm niemand! Auch nicht dieser Flegel hinter ihm, dessen fauligen Atem er im Nacken spürte; der eines der letzten gültigen Gesetzte menschlichen Zusammenlebens gebrochen hatte. Dieser Kerl war ich.

Das Gesetz: Respektiere die „Neuen Diskretionszonen“! Ohne Not hatte ich diesen Menschen in schlimmste Bedrängnis gebracht, weil ich wissen wollte: Wie weit gehen Menschen am Geldautomaten, wenn man die gelb markierte Diskretionslinie am Boden ignoriert. Unter uns: Es passiert nichts Schlimmes. Nur daß man von allen Beteiligten wie ein Sittenstrolch, Katzenvergifter und Ehebrecher angestarrt wird.

Und doch haben sie Recht, die Geldinstitute, und sind zu loben: Sie geben uns zurück, was die Medien aus Gewinnsucht nahmen — das Tabu. Sex und Krankheit, Tod und Tränen — wo bist Du, furchterregendes Tabu? Die gelben Linien auf dem Trottoir markieren ein geheimnisvolles neues Tabu, sie sind die letzten magischen Kreise unserer Kultur.

Am eindrucksvollsten macht das übrigens unsere Post, bei der man sich ja, so man Zeit hat, auch Geld holen kann. „Mehr Vertraulichkeit für Sie“ heißt das Motto, fast zwei Meter trennen die Schlange vom Mütterchen, das Postkarten kauft. An der „magischen Linie“ hat die Post blaue Pfosten im Marmorlook aufgepflanzt, stumme Wächter, die von Hoheit und Obrigkeit künden. Hier darf die Post noch einmal sein, was sie immer am liebsten war: des Staates strenges Gesicht. Schon wurden Postbeamte dabei beobachtet, wie sie vor den Pfosten am Rande der Diskretionszone die blaue Mütze zogen. Bestimmt wären sie zur Not auch für einen Schießbefehl zu haben.

Burkhard Straßmann