Nachschlag

■ „Zeitsprünge – 40 deutsch-deutsche Jahre“

Ideal gewählt war er ja, der Ort für die Uraufführung der Komposition „Zeitsprünge – vierzig deutsch-deutsche Jahre“: ein Westberliner Neubausilo à la DDR als Kulisse des Lichtenrader Gemeinschaftshauses, in dem die Vorstellung ihren Lauf nehmen sollte. Drinnen dann ein Galamenü aus (mindestens) drei Gängen, das Hauptgericht gleich vorneweg: „Zeitsprünge – vierzig deutsch-deutsche Jahre“ haben Joachim Schmeißer, Ex-Ostberliner, und Michael Lundt, Ex-Westberliner, ihre Komposition ganz ernst benannt. Geboren ist sie – wie so vieles andere auch – aus dem inneren Drang mitzuhelfen, die Vereinigung von DDR und BRD zu vollenden. Gerade das „Zusammenwachsen“ von Ost und West hat die beiden Musikexperten von Anfang an bewegt, wenngleich zeitversetzt. Lundt komponierte „Zeitsprünge“ 1991 und bat Schmeißer dann, das Werk Korrektur zu lesen. Eine schöne Konstellation: Ein Westler fragt einen Ostler um Rat, ganz anders als im „normalen“ Leben.

Das Werk faßt ganze 40 Jahre deutsche Geschichte in einem Bogen zusammen, der – zumindest gegen Ende – durch Einseitigkeit glänzt. Anfänglich werden beide damals real existierenden Staaten noch parallel demontiert. Das Thema Armee: Adenauer und Stoph rechtfertigen, in Form von Zitaten, ihre militärischen Spielchen. Nach dem Kapitel Mauerbau gab es dann – zumindest laut „Zeitsprünge“ – auf westdeutschem Boden keine nennenswerten geschichtlichen Ereignisse mehr. Die Geschichte der BRD in ihrer alten Form setzt sich erst wieder fort, nachdem die Mauer fiel und sich der von Erich Honecker zum 40. Jahrestag der DDR formulierte Satz „Den Sozialismuns in seinem Lauf...“ als historisch unwahr erwiesen hatte. Den in der ehemaligen DDR lebenden Menschen wurde Bedauern ausgesprochen.

Aber auch andere „Gastautoren“, etwa Brandt und Ulbricht, kamen zu Wort, das Ganze in einer äußerst turbulenten und durchaus eindrücklichen musikalischen Gestaltung: Geigenklänge, in die Saxophone reinhacken, wirbelnde Paukenschläge – alles da. Die Grenzen zwischen ernster und unterhaltender Musik gelten den beiden Komponisten erklärtermaßen nichts. EU- Musik nennen die Schöpfer ihre Musikform – eine gewagte Mischung aus Beethoven, Mozart, Schönberg und Penderecki. Göttlich, im wahrsten Sinne des Wortes, der Einstieg: ruhige Geigen, dann der Bläsereinsatz, Fetzen der Hymnen der ehemaligen DDR und BRD und, zu guter Letzt, Versatzstücke aus Beethovens Neunter: „Alle Menschen werden Brüder...“ Ja ja, Osten und Westen haben es geschafft, jetzt müssen sich nur noch die Schwestern und Brüder in Europa vereinen.

Die zweite Runde ging an einen anderen Komponisten: Karl Heinz Wahren mit seiner Suite „Nächtliche Tänze toskanischer Jungfrauen in florentinischen Gärten zur Blütezeit der Inquisition“: „Der nicht nur ironisch gemeinte Titel soll auf die Spannung zwischen Kunstmusik und Gesellschaft hinweisen...“ No comment. Den Abschluß des in der Tat sättigenden Menüs bestritt das Radio-Berlin-Tanzorchester (RBT-Orchester) mit Darbietungen von Melodien und Rhythmen aus seinem 40jährigen Repertoire.

Immerhin entsprang das Konzert nicht nur einem schönen Anlaß, es diente auch einem guten Zweck: Dem Orchester droht das Aus, und da hat Herr Wahren sich eben persönlich dafür eingesetzt, daß es durch ABM-Maßnahmen aufrechterhalten werden kann. In diesem Sinne hofft das RBT-Orchester natürlich, mit diesem Konzert auf „Berlintournee“ (Veranstalter) gehen zu können. Bei den Bezirksämtern angedient hat es sich schon, sieben davon haben zugesagt. Erst durch Geschichtsaufarbeitung ist ja echte Gemeinschaft möglich, nicht wahr? Beatrix Reinhardt