Die Bestie fühlt sich nicht

■ Artaud-geschult: „Paradox now, Paradies später“ – Stephan Schulberg vom Living Theatre im Theater 89

Die Bestie weint aus einer tiefen Höhle heraus. „I'm not feeling“, röhrt sie mit baßtiefer Stimme, verzweifelt, klagend, mal laut, mal leise. Wie ein ungezähmtes Tier läuft, springt, hüpft und tanzt Stephan Schulberg mit silbergrauer Mähne zu Beginn seines „ko(s)mischen“ Theaterstücks „Paradox now, Paradies später“ im weiten Raum des Theaters 89 umher. Er macht sich warm, seine Art zu arbeiten ist eine improvisatorische. „I'm not feeling“, baßt er wieder, aber bald fühlt er sich dann und setzt seine Energie produktiv um. Stephan Schulberg erzählt tänzerisch als auch verbal Geschichten über Einengung und Ausbruch, über den Verlust von Kommunikation, über Gewalt, Gott und über das Theater.

Jahrelang ist Stephan Schulberg, der gebürtige Deutsche, der seine Muttersprache fast verlernt hat, mit dem Living Theatre durch Europa und die USA getourt. Die Straße ist für ihn die natürliche Bühne, ein „richtiges“ Theater bislang Fremdkörper geblieben. Mit Benito Gutmacher hat Schulberg sich diesen Soloabend erarbeitet – ein Experiment, seine theatralen, Artaud-geschulten Mittel auch auf herkömmlichen Bühnen einzusetzen.

Für das Theater 89 ist diese Art zu arbeiten nicht mehr ganz so fremd. Seit einiger Zeit bereits versucht das Off-Theater, das zu einem der ersten der DDR-Vorwendezeit gehörte und sich fast ausschließlich aus ehemaligen Stadttheaterschauspielern zusammensetzt, sich der improvisatorischen Arbeit mit Schauspielern zu öffnen, die den Machern mehr Erfolg zu haben verspricht als die nüchterne Diktatur der Regie. Auch die hauseigenen Gastspiele sucht sich das Theater nach diesen Kriterien aus: Formal und inhaltlich sollten Theaterschaffende, die in diesem Raum spielen wollen, möglichst etwas mit der Arbeit des Theaters 89 zu tun haben. Das Ensemble möchte ein geschlossenes Bild nach außen abgeben, kein wahlloses Greifen nach Stücken durchziehen, sondern themenbezogener und stiltreuer arbeiten als viele der Kollegen von Stadt- und Off-Theatern.

Stephan Schulberg ist nicht der erste, der in diesem Raum gastiert, aber sicherlich einer der extremsten. Er ist egozentrisch, lebt auf der Bühne vor, was vor allem ihn interessiert und herausfordert. Er malt zu Richard Strauss, tanzt ekstatisch und schweißtreibend zu T.Rex oder jiddischen Liedern. Andererseits vermittelt er ebenso erfolgreich und intensiv ein Lebensgefühl, dicht gefüllt mit Individualität und Anpassungsunfähigkeit an gesellschaftliche Zwänge. Für seine kleinen Szenen und Anekdoten verwendet er Texte von Hölderlin, von Artaud und aus dem Alten Testament. Da tritt Joyce' „HCE“ aus „Finnegans Wake“ diesmal als „Here Comes Everybody“ auf, und Aischylos spricht über seine Theatervorstellungen. Es ist Stephan Schulberg, der die verschiedenen Elemente dieses Abends auf einen Nenner bringt: „One is one is one is one“ – als einen Appell ans Individuum, auch ein solches zu bleiben. So wie er sich nicht in eine Schublade pressen lassen will, so wie er Spaß haben will und Intensität, ruft er auch die Zuschauer zu einer anarchistischen Revolution voller Lust und Triebhaftigkeit auf, mit etwas zu markigen, altbekannten Sprüchen manchmal, aber immer glaubhaft. Stephan Schulberg lebt, was er auf der Bühne darstellt. Anja Poschen