Erfolg mit Sorgenfalten

■ „Wollen, können, müssen, dürfen“: die Internationale Medienwerkstatt „DokumentART“ in Neubrandenburg

Was und wie ein Dokumentarfilm sei, das wisse eigentlich doch jeder – wozu also die genreüblichen Grenzen in Zweifel ziehen? Die branchenblinde Kritik eines Besuchers der „DokumentART“ macht dem offenen Konzept der viertägigen Medienwerkstatt im mecklenburgischen Neubrandenburg unfreiwillig das beste Kompliment.

Eine höchst ungewöhnliche, weil doppelbödige „Vorstellung“ von Geschichte bot beispielsweise die Ungarin Uldikó Enyédi im Episodenfilm „Winterkrieg“. Vorhang auf, Verneigung, und sogleich (ver-)führt eine magyarische Scheherezade aus den Tagen des frühen Tonfilms das Publikum auf das Schlachtfeld eines Welttheaters, märchenhaft und mörderisch. Da liegen Soldaten in Stellung, eiskalt bläst der Schneesturm in die Schützengräben, bis unversehens Kamele und Karawanen, hinduistische Gurus und sorglos spielende Gören ins Visier kommen. Ein dunkler Fleck in der endlosen Eiswüste entpuppt sich just als ein Pulk von Pinguinen, die aufgeregt auseinanderstieben. „Sieh mal dort“, ruft einer und weist verdutzt auf ein Geschwader von Kampfflugzeugen, „eine qualmende Schachtel!“ – „Kapier ich nicht“, kapituliert ein anderer. „Hurra! Ihnen nach!“ schreit schließlich die komplette Kameradschaft. Nur einer bleibt sinnend zurück: „Eine Kreatur lauert der anderen auf. Ein Wesen verzehrt das andere, verschlingt beispielsweise ein Bein. Aber ist denn ein Bein dazu da?“

„Winterkrieg“, sieben je fünfminütige Episoden nach Milán Füst, entstand im Budapester Studio Junger Künstler (FMS) für den Zyklus „Zwischenspiel“ des ungarischen Fernsehens. Eine Serie von insgesamt 52 Einzelporträts bedeutender Dichter und Denker (von Weöres und Thomas Mann bis Wittgenstein und Slawomir Mrozek), die wenigstens einen Moment lang zum Innehalten zwingt. Ein Anliegen, das die internationale Jury der „DokumentART“ zu Recht mit dem – mit 5.000 Mark dotierten – Hauptpreis honorierte.

Weitere Förderpreise gingen an „La Plage“ von Patrick Bokanowski (Frankreich), „Beckerbillett“ von Robert Bramkamp (Hamburg) und „Zwack“ von Martin Štrba (Slowakei) sowie „Timisoara – Dezember 1989“ von Bose O. Pastina (Rumänien), der in Neubrandenburg zur Welturaufführung kam (und im diesjährigen Forum des Jungen Films zu sehen sein wird). „Timisoara – Dezember 1989“, der als das wichtigste Dokument der Nach-Ceaușescu-Ära gelten kann, ist kein historischer Dokumentarfilm herkömmlicher Form. Anders etwa als Harun Farocki und Andrej Ujica in „Videogramme einer Revolution“ geht es Pastina, der in Timisoara zum Augenzeugen der rumänischen Revolution wurde, nicht um die Rekonstruktion der Ereignisse, sondern eher um eine Regeneration der Erlebnisse. Getrieben vom Glauben an die Wahrheit der Gefühle, bringt er die geschundene Seele eines Volkes auf den schmerzhaftesten Punkt. Eine Tour de force révolutionnaire, auf schmalem Grat.

„Vom Wollen, Können, Müssen und Dürfen“ – die uneingelöst gebliebene Umstandsbestimmung der DDR-Dokumentaristen neu zu definieren, ist die „DokumentART“ an der Stelle der früheren Nationalen Leistungsschau ein ganzes Stück vorangekommen. Wie notwendig neue Maßstäbe sind, zeigte die Premiere zweier vom Mecklenburg-Vorpommern- Film e.V. (mit-)finanzierter Produktionen. „Wenn dich keiner sieht und keiner hört“ (Regie: Michael Chauvistré, Aachen) dümpelt beim „Wende“-Manöver eines arbeitslosen Fischers an der Oberfläche der Konvention, während das Musikvideo „Solution“ (von Dani, Schweiz) M/V an MTV verkauft. Allen Erfolgen zum Trotz, die sich nicht zuletzt in einem regen Publikumsinteresse widerspiegelten, steckt die „DokumentART“ in Schwierigkeiten. Der Verein Kommunales Kino ist mit der ehrenamtlichen Trägerschaft überlastet, die personelle Weiterführung weiterhin unklar, und obendrein soll die zentrale Spielstätte „Latücht“ – das erste kommunale Kino des Landes – bereits Mitte des Jahres der Abrißbirne zum Opfer fallen. Statt eines akzeptablen Ausweichquartiers hält die Stadt bis auf weiteres nur Ausflüchte parat: Basiskultur bald ohne Basis? Roland Rust