Schiffbruch in der Wüste

Pina Bauschs neuer Tanzabend in Wuppertal  ■ Von Gerhard Preußer

„Did You get it?“ ruft uns eine Frau vom Deck eines gestrandeten Fischkutters herab lachend zu. Nein, nichts haben wir verstanden, aber alles gesehen.

„A fish without water, a bird without wings. Did You get it?“ Natürlich haben wir verstanden. Der auf die Klippen gesetzte Schiffsrumpf ist ein Symbol von erdrückender Eindeutigkeit. Die ganze Bühnenbreite füllt er aus, hoch über dem wüstenbraunen Strand hängt er in bizarren Felsblöcken festgekeilt (Bühne: Peter Pabst). Gescheiterte Hoffnung, Überlebensversuche nach dem Ende der Utopie.

Ein schiffsbrüchiges Paar kommt über die Felsen geklettert, sicher trägt er sie in seinen Armen an Land. Doch dann nimmt der kräftige Mann die zierliche Frau einfach mit einer Hand am Rückenteil ihres Kleides und hebt sie knapp über die Erde. Ihre Arme und Beine laufen, ohne den Boden zu berühren, leer mit. Wie eine am Fell gepackte Katze schleppt er sie mit sich. Etwas später kommt der Stämmige (Jan Minarek) wieder auf die Bühne mit seiner Last (für die erkrankte Beatrice Libonati übernahm Ruth Amarante in der dritten Vorstellung diesen Part). Diesmal lehnt er sich an eine Wand, die Frau steigt über ihn hinweg die Wand hinauf und hängt sich dort leicht an ein Gitter. Während sie dort schwebt, tritt er vor, und ein anderer Mann (Jean-Laurent Sasportes) springt mit traurigem Gesichtsausdruck rückwärts aus der Hocke in seine Arme; ein Fosbury-Flop wie aus einem gegen die Zeit laufenden Film, als würde er eigentlich nicht springen, sondern geworfen werden.

Eine andere, mehrfach wiederholte Szene zeigt die Umkehrung der Realität des Geschlechterverhältnisses. Nicht die Frau ist die Stütze für die Höhenflüge des Mannes, sondern der Mann wird zur Startrampe der Frau. Ein Paar steht sich eng aneinander geschmiegt gegenüber. Beide werden von je zwei Männern gehalten, der Mann wird zurückgekippt, die Frau liegt nun schräg auf ihm, dann wird der Mann weiter herabgelassen, und die Frau gleitet, getragen von den Helfern, über ihn hinweg nach oben, steigt in die Höhe und gleitet im Flug über die Bühne.

Brutale Fürsorglichkeit der Männer, regressive Wünsche nach Zärtlichkeit, weibliche Versuche, die Schwerkraft zu überwinden: die alten Leitmotive Pina Bauschs sieht man auf auf dieser Strandwüste. Die Eindeutigkeit der Schiffssymbolik ist nur Ironie. Unter der Einheitsmetapher im Einheitsbühnenbild spielt sich ein Tanzabend ab, der genauso titellos vieldeutig ist wie die letzten Arbeiten Pina Bauschs.

Die Überlebensstrategien der Schiffbrüchigen sind eher komisch: ein Mann schält auf dem Bauch im Sand liegend Kartoffeln, robbt quer über die Bühne und wirft sie in einen Kochtopf. Einer kommt mit Bettzeug, spult ein Einschlafritual ab und rollt sich mit sanftem Schwung zufrieden in seine Decke. Eine Frau wischt mit einem Lappen und einem roten Eimer den Sand sauber. Ein anderer stülpt seinen Kopf in einen ähnlichen Eimer und versucht ihn unter Wasser zu halten, bis er nach Luft schnappend wieder auftaucht: ein lächerlicher Selbstmordversuch eines Geretteten, sinnlose Aktionen Desorientierter.

Vor diesem Hintergrund und unterbrochen von diesen Spielszenen entfaltet sich aber der erste Teil des Abends als eine Serie von Solotänzen. Helena Pikon beginnt mit verkrampften Zuckungen, Arm- und Beinverdrehungen, sie ohrfeigt sich selbst, tanzt fast auf der Stelle, sich selbst betastend, egozentrisch. Dieser Tanztypus wird von vier weiteren Tänzerinnen und zwei Tänzern variiert. Immer wieder ähnliche Gesten der Selbstaggression, der verzweifelten Selbstvergewisserung.

In solcher Isolation ist Zärtlichkeit nur Qual. Jan Minarek küßt Ruth Amarante, und sie kleben, nur durch ihre Münder verbunden, aneinander fest. Er nimmt sie hoch, sie hängt immer noch nur an seinen Lippen, er dreht sich mit ihr im Lusttaumel, und sie muß sich in der Luft strampelnd mit ihm drehen. Ein Pas de deux kann so nicht gut gehen. Einmal versucht es ein Paar zu Lautenmusik: einige Hebefiguren, dann bricht der Streit aus. Sie tanzt nicht weiter. „Was soll denn das, mach doch weiter“, schreit der Partner fassungslos. Da helfen auch Jan Minareks Witze nicht mehr. Zweiertänze sind nur möglich als Solo mit ambivalenter Hilfestellung. So besprüht Dominique Mercy die verzweifelt tanzende Helena Pikon mit einer Hochdruckspritze, als ginge es um eine Filmaufnahme von „Dancing in the Rain“.

Wenn aus solcher Zersplitterung eine Ensembleszene entsteht, ist das ein Wunder, ein Fest. Die Männer stellen sich auf in der Bühnendiagonale, erheben die Hände über den Kopf, dann hört man einen Zink, einen Pommer, die Musik schwillt an zu einer Renaissance-Pavane, und die Tänzerreihe beginnt zentimeterweise einen Schreittanz von eleganter Feierlichkeit. Die Frauen stellen sich zwischen die Männer in die Reihe, und das ganze Ensemble zieht in zeremonieller Langsamkeit über die Bühne. Doch bald schon löst sich dieser Gemeinschaftswahn auf, und Einzelaktionen bestimmen wieder das Bühnengeschehen bis kurz vor der Pause. Dann finden sich die Geschlechtergruppen jeweils zu einem mit eigenem Gesang begleiteten Reigentanz zusammen, diesmal weniger höfisches Zeremoniell als folkloristische Reminszenz. Die beiden Reihen umwinden sich, aber kreuzen sich nur einmal. Das ist das Maximum an Gemeinsamkeit.

Nach der Pause geht ein nächtliches Gewitter über die am Strand in Decken gehüllt lagernden Schiffbrüchigen nieder. So entstehen zu afrikanischen Tanzliedern, von Donner und Trommeln begleitet, hektische Szenen. Männer und Frauen treiben sich abwechselnd voreinander her wie Frösche springend, dann tragen sie gruppenweise jeweils einen oder eine in eiliger Rettungsaktion nach vorne an die Rampe.

Doch nach dieser erzwungenen Gemeinschaftsaktion zerfällt das Spiel wieder in melancholisch-komische Einzelnummern. Helena Pikon sucht etwas oder jemanden, legt sich die Hand vor den Mund, horcht am Boden, legt sich auf den Rücken, umfängt einen nicht vorhandenen Geliebten, sinkt enttäuscht zur Seite. Man bringt ihr ein Seil, und sie versucht sich, flach am Boden liegend, im Seilspringen in der Horizontale. Julie Shanahan trinkt Wasser aus der Verschlußkapsel einer Sprudelflasche, erzählt von den Gute-Nacht-Küssen ihres Vaters, liebkost dabei die Tischkante und erklärt uns schließlich ihre Körperproportionen. Dazwischen immer Männer, die Frauen wie Dinge behandeln. Einer trägt Ruth Amarante herein, knutscht sie ab wie eine Puppe und klebt sie an die Wand. Mit einer Hand fixiert er sie dort, während er mit der anderen Champagner schlürft. Und auch die Komik ist geschlechtsspezifisch: Jan Minarek erklärt uns sachkundig die Nützlichkeit der beweglichen Tülle einer Gießkanne, während Nazareth Panadero uns, die nackten Brüste mit Zeitungspapier verdeckend, ihre Lust auf Pellkartoffeln gesteht.

Schließlich entdecken die Männer die Frau noch als Heilige. Während Helena Pikon sich windet und dreht, berühren alle Männer des Ensembles sie immer wieder mit einem Finger, und verfolgen mit diesem Finger quasi die Flugbahn eines Tropfens, den die Frau in ihrem Leiden unsichtbar versprüht. Dann wiederholen sich die Bilder des Anfangs: die hilflos rudernde Frau im Katzengriff des Mannes, der sehnsüchtige Rücksprung in die Arme des Vaters, die experimentelle Selbstertränkung im Putzeimer. Schließlich steht das gesamte Corps oben an der Reling des gestrandeten Bootes mit trauriger Geste: eine Gesellschaft von heimatlosen Flüchtlingen, gestrandet in unfruchtbarer Gegend, ein trostloser Blick in die Zukunft.

Aber auch diese Eindeutigkeit wird ironisiert. Ein Tourist kommt auf die Bühne, photographiert das elegische Abschiedsbild – und uns, die Zuschauer. Wieder entsteht das für Pina Bausch typische Bedeutungsflimmern. Wir, die Zuschauer, die potentiellen Mitproduzenten, sind auch ein Bild. „Did You get it?“

Pina Bausch: Tanzabend I (Arbeitstitel). Wuppertaler Bühnen (Opernhaus), Bühne: Peter Pabst, Kostüme: Marion Cito, Musik: Matthias Burkert; weitere Vorstellungen: 23., 24., 29.Januar