Tödliches Familiendrama

■ Als wärs ein Stück von Strindberg — Hans-Ulrich Becker hat in Mannheim Euripides' „Iphigenie in Aulis“ inszeniert

Die Geschichte des Kriegsherrn Agamemnon ist schon unzählige Male erzählt und inszeniert worden, aber immer gab es diesen blinden Fleck: unerklärlich ist, warum seine Tochter Iphigenie freiwillig den Opfergang antritt, nachdem sie den Betrug ihres Vaters erkannt hat.

Agamemnon, Oberbefehlshaber des griechischen Heeres gegen Troja, läßt seine älteste Tochter Iphigenie ins Heerlager holen, angeblich, um sie mit Achill zu verheiraten. Im Lager erfährt sie jedoch, daß ihr geliebter Vater sie töten will. Die Götter verlangen dieses Opfer als Preis dafür, daß sie den langersehnten Wind für die griechische Flotte wehen lassen.

Die ganze Geschichte ist überhaupt eine windige Sache. Daß Iphigenies Opfertod die Götter gnädig stimmt, beruht lediglich auf einer Weissagung des Priesters Kalchas, eines Machtpolitikers. Auch Agamemnon geht es um die Macht. Er will seine Stellung als oberster Kriegsherr des unruhigen griechischen Heeres halten – Konkurrent Odysseus lauert schon im Hintergrund. Also muß Wind her. Hans-Ulrich Becker hat die „Iphigenie“ am Mannheimer Nationaltheater fast wie ein Strindbergsches Familiendrama inszeniert – eine Schlacht der Worte und Tränen, in der Agamemnon und Klytämnestra, Iphigenie und Achill sich wie Gladiatoren umschleichen. Vor allem in der langen Szene der Auseinandersetzung Iphigeniens mit Agamemnon (Markwart Müller-Elmau) bewegt sich die Inszenierung am Rande eines Tränensees, wird zur Gratwanderung, die Becker jedoch ohne Absturz hinter sich bringt.

Von den drei größten Dichtern am griechischen Tragödienhimmel – Aischylos, Sophokles und Euripides – brachte der Dichter Euripides den Göttern das größte Mißtrauen entgegen. Daß er seine Iphigenie dann freiwillig in den Opfertod gehen läßt – so als vertraute sie den Göttern bedingungslos – mutet da schon als etwas schroffe Wendung an und wird auch häufig als solche inszeniert. Beckers Iphigenie Pia Podgornik jedoch spielt eine Reihe von Gefühlsregungen, die den Umschwung vorbereiten. Nachdem sie vergeblich den Vater bekniet und umschmeichelt, nachdem sie Kindheitserinnerungen beschworen und an seine Liebe appelliert hat, wird ihr das Ungeheuerliche des Vorgangs scheinbar klar.

Eigentlich müßte sie angesichts des infamen Komplotts die Liebe zu ihrem Vater begraben. Podgornik zeigt, daß Iphigenies Opferbereitschaft ein Zurückschrecken vor dieser Konsequenz ist. Sie kniet auf dem Boden, zwei schwere Steine in den ausgestreckten Händen, übernimmt – wie um den Traum von der glücklichen Jugend zu bewahren – die Argumente des Vaters und wird zu einer merkwürdig gebrochenen Kämpferin fürs Vaterland. Die Jugend ist dahin, erwachsen geworden ist sie allerdings nicht, und so wiegt sie sich mit den Frauen aus Chalkis in den Opfertod ein.

Jetzt, da die Entscheidung gefallen ist, wird die Stimmung Iphigenies geradezu ausgelassen, und Hans-Ulrich Becker bleibt nahe an der Figur. Es ist eine intime Vorbereitung des Opfers, ohne die gesellschaftliche Dimension eines Rituals.

Beckers Stärke: Er hat keine unnötige Aktualisierung oder wilde Attitüden nötig, sondern inszeniert vom Text her – wie vor einem Jahr, als er in Heidelberg einen gelungenen „Karate Billi“ (Klaus Pohl) auf die Bühne brachte, oder wie in Gombrowiczs „Yvonne, die Burgunderprinzessin“, mit der er zum überregional beachteten Nachwuchsregisseur avancierte. Auch die Yvonne wurde von Pia Podgornik gespielt, die Anfang dieser Spielzeit mit Becker ins benachbarte Mannheim wechselte, wo mit der „Iphigenie“ jetzt die vierte Premiere der laufenden Spielzeit am Nationaltheater zu sehen ist. Jürgen Berger

Euripides: „Iphigenie in Aulis“ im Mannheimer Nationaltheater. Inszenierung: Hans-Ulrich Becker. Mit Johannes Merger, Markwart Müller-Elmau, Pia Podgornik und Achim Buch. Nächste Aufführungen: 27. bis 29.1.