■ Flugmuscheln, Kiwis und gebärende Bundesadlerinnen: Tierische Sensation im Busch
Auckland (taz) – In Neuseeland war der Januar zweifelsfrei der Monat der Naturwissenschaftler. Schlimmes war passiert, anfangs völlig rätselhaft. Menschen erkrankten immer mehr nach Genuß von Schalengetier. Entschlossen dreinblickende Biologen und Chemiker erschienen in den Nachrichtensendungen, gaben zahllose Interviews und versprachen, die Gründe schleunigst herauszufinden. Bald schon diagnostizierten sie ungewöhnliches Algenwachstum, das mit der Produktion von irgendeinem Giftstoff einherging. Welcher, warum? Schulterzucken. Aber sie würden dran arbeiten, sagten die Weißkittel und beugten sich wieder über ihre Mikroskope.
Andere suchten die Küstenstreifen ab und fanden Giftstoffe in immer neuen Buchten. Jeden Tag wurden neue Gebiete off limits erklärt, vergangene Woche in ganz Neuseeland das Sammeln und Fangen von Austern, Muscheln, Scallops und Hummern untersagt. Tausende sind seitdem vorübergehend arbeitslos, die Verluste der Industrie gehen täglich in die Millionen, Restaurants werden auch tiefgefrorene und importierte Meeresköstlichkeiten nicht mehr los. Die Verunsicherung ist groß und wuchs noch, als erste Opfer ins Krankenhaus mußten.
Jetzt konnten die Forscher endlich erste Ergebnisse präsentieren: Das Wasser sei ungewöhnlich warm, darum das Algenwachstum und der Ausstoß von Giftstoffen. Große Überraschung allerorten – waren die letzten zwölf Monate doch die kältesten seit Jahrzehnten. Das konnten auch die Wissenschaftler nicht leugnen, und schon hatte einer eine neue Theorie zur Hand: Das Wasser sei zu kalt! Große Überraschung aufs neue. Ja, sagte er, wenn es zu kalt sei, fühlten sich die Organismen getäuscht, sie entwickelten sich in einer Art Frostpanik, als wäre es zu warm, und dann – siehe oben. Der gesunde Menschenverstand hatte keine Chance, und Greenpeace- Ökologen wiesen noch, weitgehend ignoriert, auf vergangene Algenpests in Übersee (also bei uns) hin. Es liege wohl doch allgemein an der Umwelt.
Ja, was nun? Aus dieser Umwelt meldeten sich, ohne Mikroskope und Computerprogramme, zwei Leserbriefschreiber. Der eine fragte verwundert, warum niemand in Neuseeland die „r“-Regel kenne. Diese besage schließlich, daß, auf Europa bezogen, niemand Muscheln und dergleichen in einem Monat sammle oder esse, der ein „r“ beinhalte. Das brauche man doch nur auf die Südhalbkugel umzurechnen. Solche Bauernregel aber focht die Wissenschaftler nicht an.
Mitten in ihre Rechtfertigungslücke aber kam ein neuer großer Auftritt der Sciencetisten mit einer tierischen Sensation: Tief im Busch der Südinsel war eine neue Kiwi- Art entdeckt worden, Kiwis sind jene fast kugelrunden, langschnabeligen und flugunfähigen Urvögel, die dank ihres bizarren Aussehens zum geliebten Nationalsymbol Neuseelands wurden. Und davon jetzt also eine neue, dritte Spezies: nicht braun oder graubraun wie die beiden bekannten Arten, sondern noch grauer mit weißen Federn am Kopf. Ein neues Tier, seit Jahrtausenden vom Menschen nicht identifiziert, das ist down under etwa so erregend, als würde die Bundesadlerin bei uns Eier legen oder sogar Junge gebären. „Der Fund des Jahrtausends“, jubeln die TV-Nachrichten. Die Biologen sagen, jetzt brauchte es nur noch der Gentests, um letzte Gewißheit zu bekommen.
Hoffentlich behalten die klugen Wissenschaftler recht. Nicht daß sich der neue Kiwi als ein in Ehren ergrauter alter herausstellt oder am Ende nichts als ein wasserscheuer, fluglahmer Festlandhummer ist oder eine gefiederte Trockenauster. Bernd Müllender
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