Craxi und seine Tangentopoli

■ Weitere Anklagen im lombardischen Korruptionsskandal/ Auch Starregisseur Giorgio Strehler betroffen

Berlin (taz) – Der genau hundertste Haftbefehl im uferlosen Korruptionsskandal, der in Norditalien täglich für Schlagzeilen sorgt, traf die mutmaßliche Schlüsselfigur. Am Montag wurde Giovanni Manzi, der frühere Flughafendirektor und Ex-Provinzsekretär der Sozialistischen Partei (PSI), auf dem Mailänder Flughafen Malpensa in polizeilichen Gewahrsam genommen. Manzi hatte sich dem Haftbefehl durch die Flucht in die Dominikanische Republik entzogen. Doch die Regierung der Karibikinsel kam nun dem Ersuchen der italienischen Justiz nach und lieferte ihn aus.

Von Manzi erhofft sich die Justiz weitere Einzelheiten über System und Umfang der tangenti, der Bestechungszahlungen. In Milliardenhöhe haben Parteien, allen voran die PSI, öffentliche Gelder – via Honorierung der Vergabe von Aufträgen an Unternehmen — in die eigene Tasche gescheffelt. Der sozialistische Parteichef Bettino Craxi, gegen den wegen Verdachts der passiven Bestechung ermittelt wird und der sich um die Aufhebung seiner parlamentarischen Immunität sorgen muß, hat inzwischen die Flucht nach vorne angetreten. Er fordert eine parlamentarische Untersuchung über die Parteienfinanzierung „der letzten zehn, am besten zwanzig Jahre“. Sein Motto: Das haben doch alle so gemacht. Damit liegt er vermutlich nicht mal so falsch.

Doch der Mailänder Staatsanwalt Francesco Saverio Borrelli glaubt die Strategie des Sozialisten zu durchschauen. Das Parlament könne selbstredend frei nach Belieben alles untersuchen, doch bestehe „die Gefahr, daß eine riesige Staubwolke aufgewirbelt wird, die dann die klaren Umrisse vieler Geschehnisse, die inzwischen aufgeklärt sind, wieder vernebeln“. Indirekte Schützenhilfe erhielt Craxi vom christdemokratischen Parteichef Mino Martinazzoli. Der schlägt eine Untersuchung durch drei vom Staatspräsidenten ausgewählte Verfassungsrichter vor. Auch auf diesem Weg würden die respektlosen Ermittlungen der Richter aus der lombardischen Metropole konterkariert, befürchten Spitzenpolitiker der (Ex-kommunistischen) „Partei der Linken“ (PDS).

Im Zusammenhang mit dem Korruptionsskandal in der Tangentopoli, wie Mailand inzwischen in der Presse spöttisch genannt wird, schloß vorgestern der Untersuchungsrichter Fabio De Pasquale die Ermittlungen gegen 48 Personen ab, darunter fast die komplette Regierungsmannschaft der Region Lombardei, eine Reihe hochkarätiger Industriemanager und auch der italienische Starregisseur Giorgio Strehler. Gegen sie alle wird nun Anklage erhoben. Es geht um umgerechnet 220 Millionen Mark, zur Hälfte Gelder aus der EG, zur Hälfte vom Arbeitsministerium, vorwiegend für die Finanzierung von Umschulung und Fortbildung bestimmt, Gelder, die zum großen Teil irgendwo unauffindbar versickerten. Michele Colucci, der frühere sozialistische Bildungsminister der Region, und acht weitere Personen müssen sich nun sogar wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung verantworten. Strehler wird beschuldigt, umgerechnet 770.000 DM veruntreut und ein Zehntel davon als Honorar für Unterrichtsstunden, die aber – so der Untersuchungsrichter — nur normale Probeaufführungen gewesen seien, in die eigene Tasche gesteckt zu haben. Der Regisseur, dessen renommiertes „Piccolo Teatro“ von der EG mit fast zweieinhalb Millionen Mark subventioniert wird, zürnte gestern in seinem Schweizer Domizil, er werde erst zu seinem Theater nach Italien zurückkommen, wenn seine Unschuld anerkannt sei.

In der Schweiz wurde am Montag die Beugungshaft gegen den Financier Florio Fiorini um drei Monate verlängert, der sich weigert, die Umstände eines von ihm verschuldeten Bankrotts und sein Wissen um ein sogenanntes „Schutzkonto“ preiszugeben, über das aus Lugano Gelder in Millionenhöhe an die Sozialistische Partei Italiens flossen. Fünf Jahre lang hatten sich die Eidgenossen dagegen gewehrt, der italienischen Justiz bei der Aufklärung des mysteriösen Kontos behilflich zu sein, das der Bankier Roberto Calvi (später mysteriös in London gestorben) eingerichtet haben soll und auf das die Italiener über eine Notiz Licio Gellis, seinerzeit Chef der Geheimloge P-2, aufmerksam gemacht wurden.

Wenn in Italien — wie in diesen Tagen — die Wellen hochschlagen, pflegt sich auch der oberste Katholik einzumischen. Der Papst appellierte an die Politiker, sich in ihrem Geschäft bitte für mehr Transparenz und Ehrbarkeit zu verwenden. Hilfreicher ist da vielleicht eine Initiative zweier Gymnasien in Mailand im Norden des Landes und Torre Annunziata bei Neapel im Süden. Sie haben gerade die erste Nummer ihrer gemeinsamen Zeitung herausgegeben, die sich gegen Tangentopoli und Camorra richtet. „Die Worte der Jugend“, heißt es hoffnungsvoll im Editorial, „erwecken in uns die Gewißheit, daß noch nicht alles verloren ist.“ Thomas Schmid