Vorschlag

■ Ulrich Weiß' „Miraculi“

Sebastian Müller taugt nicht zum Kontrolleur. Statt zu fordern, bittet er mit schüchterner Leidensmiene um die Fahrscheine. Immer wissen alle vorher, wer er ist, und halten gelangweilt die graugrünen Schnipsel in die Höhe. Wer keinen hat, wird nicht abkassiert, sondern zur Beichte gebeten. Regisseur Ulrich Weiß läßt den Protagonisten seines Films „Miraculi“ in die Rolle von Gottes liebem Sohn schlüpfen. Sebastian Müller als Vertreter der Kontrollorgane in einem verstaubten Büro des Straßenbahndepots, im Christus-Look wie auf kitschigen Heiligenbildchen: Man könne immer nur Gleiches mit Gleichem vergelten, sagt er – Liebe mit Liebe, Betrug mit Betrug und so weiter.

Einer zahlt trotzdem immer: Ein androgyner Typ mit Lederjacke, rotgeränderten Augen und magischem Blick – es könnte der Teufel sein. „Das Leben ist ein Spiel unserer Illusionen“, ist Weiß' Motto zum Film, und das hat er ziemlich konsequent umgesetzt. Der Regisseur hat Parabeln übereinandergeschnitten, in Erinnerung an Kafka und in der Tradition des Absurden. Langsam durchzieht die Kamera einen dunklen Raum; hier beginnt die Geschichte, und hier endet sie auch, als wäre nichts geschehen: Selbst das Spiel ist kein Spiel, sondern Spuk.

Sebastian Müller (Volker Ranisch) spielt die Rolle des Kontrolleurs nur, weil er meint, er könne damit eine Schuld abtragen. Er hat zwei Schachteln Zigaretten geklaut, weil es nachts in einer Stadt der DDR eben keine mehr zu kaufen gab. Er hätte abhauen können, bevor die Bullen kommen. Das aber wäre gegen das Prinzip des Schmerzensmannes: Der läuft nicht weg und wehrt sich nie. Schuldbewußt steht er vor der sozialistischen Konfliktkommission, einer Art Laiengericht für geringe Vergehen, und ist für die ein verdorbenes Subjekt. Als Kontrolleur in der Straßenbahn ist Sebastian nicht besser dran. Als „aus der Art geschlagen“ verstößt ihn der Vater. Mit höhnischem Grölen werfen einstige Freunde den apathischen Jungen aus dem Waggon. Sebastian irrt durch die Stadt, ohne zu wissen, wohin, mit wem, wozu. Was er tut, hängt von anderen ab. Die entziehen sich ihm und tauchen wieder auf, wann immer es ihnen paßt.

Als Christus verkleidet, läuft Sebastian dem androgynen „Teufel“ nach in verwinkelte Straßen: ein Labyrinth, ähnlich dem in Woody Allens „Schatten und Nebel“. Der Teuflische trägt einen weißen Dandy-Schal und eilt behende durch die nächtliche Stadt, gleichzeitig hinter und vor seinem „Verfolger“: immer schon vorher da – wie der Igel in Grimms Märchen. Der ewige Verlierer läßt sich schließlich vom „Teufel“ im brandroten Cadillac entführen auf eine Party von obskurer Noblesse, außerhalb der Welt. Stilisierte, scharfkontrastierte Schönheit, in hyperklaren Farben gezeichnet. Die Kulissen sind geändert, das Problem bleibt das gleiche: Auch der Lustgarten am See ist kein Fluchtort. Die Partygäste inszenieren sich selbst und berühren einander nur nach geheimnisvollen Regeln; aus geheucheltem Mitleid etwa oder zum Tangotanzen – bis Naturgewalt das falsche Spiel beendet: Eine irre Kamerafahrt abwärts – der See ist verschwunden. Wie Ameisen irren die verstörten Party-Menschen durch den Modder und beschmieren sich die teuren Kleider. Verschwunden ist schließlich auch Sebastian – er entzieht sich seinem Gönner mit einer Frau, die ihn auf Geheiß des Dandys verführen und dann fallenlassen sollte.

Der erste Film, den Ulrich Weiß nach achtjähriger Zwangspause 1991 bei der DEFA drehte, ist ein bestechend kaltes Märchen. Radikale Unsicherheit: Niemand weiß, wohin. Friederike Freier

Miraculi. Buch & Regie: Ulrich Weiß, Kamera: E. Geick, J. Feindt. Vom 28.1.-3.2. um 20 Uhr im ACUD, Veteranenstraße 21. Dazu um jeweils 18 Uhr Weiß' Kinderfilm „Tambari“ und um 22.15 Uhr „Mein unbekannter Bruder“. Am 6.2. läuft in der „Brotfabrik“ eine Retrospektive (der Regisseur ist anwesend).