„Am Anfang war der Antrag“

Alexander Müller – ein Staatssekretär im Alltag/ Asyl in Hessen als Drahtseiltanz zwischen Kommunalpolitik, BIs und Bundespolitik  ■ Ein Portrait von Heide Platen

Er sei, sagen die Sekretärinnen im Ministerium für Jugend, Familie und Gesundheit, eine „richtige Schmusebacke“, wirklich „ein Netter“, ein Mann, der „mit den Frauen gut zurechtkommt“, fast schon ein „Feminist“. Dabei hatte Staatssekretär Alexander Müller den denkbar schlechtesten Start für solche Lobeshymnen. Im September 1992 trat der 37jährige die umstrittene Nachfolge einer wirklichen Feministin, der Frankfurterin Brigitte Sellach, an.

Sellach war, merkte die CDU im Landtag damals maliziös an, das „Bauernopfer“ der im Regen der Kritik stehenden Sozialministerin Iris Blaul (Grüne). Gerade aus dem Urlaub zurückgekehrt, mußte sie ihren Schreibtisch abrupt räumen. Das sei, schalten parteiinterne KritikerInnen, „auch menschlich eine Schweinerei“ gewesen. Schließlich habe Sellach weder die auf Bundesebene unerledigten fast 400.000 Asylanträge in Zirndorf noch die Welle der Bürgerkriegsflüchtlinge zu verantworten gehabt.

Inzwischen hatten aber immer wieder AsylbewerberInnen mit ihren Koffern auf der Straße gestanden, weil das Erstaufnahmelager in Schwalbach hoffnungslos überfüllt war, die Kreise und Gemeinden die Abnahme der Menschen sabotierten. Obdachlose Flüchtlinge, provisorische Zeltlager und quertreibende Kommunalpolitiker hatten die Wogen in Hessen hochgehen lassen und der Opposition für willkommene Negativschlagzeilen gedient. Die CDU forderte den Rücktritt der gestreßten Ministerin, die sich auch in der SPD durch Kritik an deren Bonner Asylkompromiß unbeliebt gemacht hatte.

Der brandeilig herangeholte „Neue“, der als realpolitischer Protegé des grünen Umweltministers Joschka Fischer gilt, ist gelernter Soziologe. Er saß 6 Jahre lang für die Grünen im Marburger Stadtrat, zuständig für Arbeit und Soziales, und gilt als Praktiker.

Im obersten Stock im Hochhaus an der Wiesbadener Dostojewskistraße 4 ist Müller am frühen Morgen schon sehr munter. Der schlaksige blonde Mann im flaschengrünen Jackett schüttelt mit strahlendem Schwiegersohnlächeln die Hand: „Ich bin der Alex!“ Unter der jovialen Oberfläche wirkt er angespannt wie eine Spiralfeder. Beim schnellen Einzug in das geräumige, langgestreckte Büro mit den endlos braunen Einbauschränken, ein wenig abstrakte Kunst an den Wänden, hat er den „neuen Besen“ bisher jedenfalls nicht deutlich sichtbar geschwungen. Die Einrichtung hat schon Sellach von ihrem Vorgänger übernommen.

Müller schiebt sich den Stuhl am Besprechungstisch wie nebenbei unter den Hintern, versucht zerstreut, den Gastgeber zu spielen, und möchte eigentlich viel lieber ganz schnell zur Sache kommen. Drei Punkte stehen für die angetretene Mann- und Frauschaft auf dem Programm: die „Logistik“ der Unterbringung, die – Endlosproblem – „immer hinterherhinkt“, die Folgen der Bonner Asylbeschlüsse für Hessen und die Prioritäten für bosnische Kriegsflüchtlinge.

Zahlen schwirren über den Tisch. Alexander Müller klopft immer wieder sein Credo fest: „Den Gemeinden klaren Wein einschenken! Berechenbar sein!“ Sie müssen wissen, sagt er, „was auf sie zukommt!“ Und sie müssen auch „begreifen, daß wir längst ein Einwanderungsland sind!“

Den widerborstigen Kommunalpolitikern und Verwaltungsbeamten der „mittleren Ebene“ hatte er seinen Unmut zum Jahresende verhalten höflich ins Stammbuch geschrieben. Er dankte der Bevölkerung „für die oftmals freundlichere Aufnahme, als dies Pessimisten vor Ort prognostiziert hatten“, und mahnte: „Damit gar nicht erst ein Unterbringungsnotstand“ eintrete, müßten „nun die Kommunen im neuen Jahr große Anstrengungen unternehmen, um ihrer Verpflichtung zur Flüchtlingsaufnahme nachzukommen“.

Und damit liegt es in Hessen tatsächlich vielerorts im argen. Im November 1992 erschien die erste Ausgabe des hausinternen „Info- Dienstes“ des im Ministerium eingerichteten „Büros für Einwanderer und Flüchtlinge“. Seither rangiert es als Puffer und Frühwarnsystem zwischen erbosten Bürgern vor Ort, in der Hilfe noch ungeübter Flüchtlingsinitiativen, Ausländerbeiräten und KommunalpolitikerInnen. Bürgerversammlungen, „runde Tische“ und „der permanente Dialog“ gehören zu seinen wichtigsten Aufgaben.

Und auch die offene Kritik: „Hinsichtlich der Rückstände bei der Abnahme von Asylbewerbern“, heißt es da, „fällt auf, daß die größten Rückstände in Nordhessen sind.“ Insgesamt seien die Gemeinden mit über 6.000 Aufnahmeplätzen im Verzug. Dies sei nicht nur auf die Bundespolitik zu schieben, sondern „hausgemacht“.

Der „Überhang“ wird „ohne Kommentar“ vorgerechnet. Aber der Peitsche folgt das Zuckerbrot: ein mit 40 Millionen Mark versehenes Bauprogramm für Kommunen, „damit diese durch Errichtung eigener Unterkünfte ihren Abnahmeverpflichtungen nachkommen können“. Das entspricht so ziemlich Müllers Mentalität. Auch der höflichsten Bitte verleiht er Nachdruck indem er durchscheinen läßt, wenn er wolle, könne er eben auch anders.

Die Leiterin der Unterbringungsabteilung, Gabriele Witt, ist gegenüber den steigenden Abschiebezahlen – die angeblich nach dem Bonner „Asylkompromiß“ ab 1. April zu erwarten sind – mehr als skeptisch. „Das klappt“, ahnt sie, „in der Praxis nie und erhöht nur die Zahl der Illegalen.“ Sie wolle keinesfalls, daß die Menschen, die nach der Bundesgesetzgebung abgeschoben werden sollen, in ihren Unterkünften „festgehalten“ werden: „Die Lager sind keine Gefängnisse. Wir lassen uns nicht zur Abschiebebehörde machen!“

Dann flitzt Müller zur Rundreise in dem dunklen Dienstwagen aus einem hessischen Automobilwerk. Der Fahrer schweigt vor sich hin. Schon deshalb, weil das Autotelefon unentwegt klingelt. Und wenn er nicht angerufen wird, dann hält er emsigen Kontakt, um seine Ideen und Überlegungen schleunigst weiterzugeben: „Nicht, daß ich kontrollieren will, ob Sie noch da sind, aber können Sie bitte...“ Und das am besten gleich und sofort und die Kabinettsvorlage bitte bis Mittwoch... Das neue Tempo, scheint es, hat die Asylpolitik, neben der Kriminalität wohlfeiles Wahlkampfthema der CDU, tatsächlich vorerst aus den Schlagzeilen gebracht.

„Wir haben keine Obdachlosen mehr“, sagt Müller zufrieden. Und: „Wir kommen jetzt zum erstenmal dazu, uns auch inhaltliche Gedanken zu machen.“ Dann: „Es macht mich wahnsinnig, immer noch diskutieren zu müssen, welche Schreibkräfte wo eingesetzt werden müssen.“ „Ich weiß, ich weiß“, interpretiert er die Genesis leicht bissig in die behördliche Gesetzmäßigkeit um: „am Anfang war der Antrag!“ Das Konfliktfeld ist vorgezeichnet. Widerspenstige Landräte, parteiübergreifende Borstigkeit in den Gemeinden, Ortsbürgermeister von der sozialdemokratischen „Betonfraktion“, lokale Ohnemichel auch in der eigenen, grünen Partei und in Bonn das Verteidigungsministerium, das den Bezug leerstehender Kasernen blockiert – die Welt ist nicht eben gerade freundlich zu Alexander Müller. Vor der Steubenkaserne in Gießen gewährt ein rundlicher Wachmann mit Schnauzer nach ordentlicher Kontrolle Einlaß.

Innen fegt der Chef der Betreiberfirma selber. Wolfgang Vogel schwingt pünktlich zur Ankunft des Staatssekretärs einen großen Mop und ereifert sich darüber, daß auch hinter den Heizkörpern gereinigt werden müsse. Im Gemeinschaftsraum sitzt schon eine erwartungsvolle Runde. Die Betreiber und das zuständige Regierungspräsidium sind reichlich vertreten. Im Raum ist es drückend heiß. Die neun Männer, scheint es, stehen unter einem allzu heftigen Mitteilungsdrang. Sie reden unentwegt so sehr durcheinander, daß das eigene Wort kaum zu verstehen ist. Darum aber scheint es im wesentlichen auch gar nicht zu gehen, sondern eher darum, sich gegenseitig den guten Willen zu bekunden.

Wolfgang Vogel verweist auf das professionelle Tempo, mit dem er imstande ist, auch noch aus der letzten Hütte eine Asylantenunterkunft zu zaubern, die den Mindeststandards entspricht und dann verbessert werden kann. Die Probleme sind Alltag: fehlende Kochplatten, Brandgefahr durch Warmwasserbereitung „mit blanken Drähten und dem Kleiderbügel“. Das, mischt sich Ozan Ceyhun, Mitarbeiter im „Büro für Einwanderung und Flüchtlinge“, ein, sei zwar hier verboten, in „den Heimatländern aber meist legal“. Eine eigene Kantine soll her, „nicht mehr der Aluminiumfraß“.

Dann kommt es zu dem Thema, das Müller nach eigenem Bekunden eigentlich ziemlich widerwärtig ist. Bis ins kleinste muß erörtert werden, wie denn das Procedere auszusehen hat, nach dem den Menschen hier ab der nächsten Woche das bare Taschengeld von 81 Mark im Monat ausgezahlt werden kann. Da müssen, befindet Müller, die Regierungspräsidien ran und das Personal stellen. Einbruchsichere Zahlstellen, sagt Vogel, seien für ihn „auch ganz kurzfristig“ kein Problem.

Und dann geht der harte Alltag weiter. Die „Basis“ hat sich in Gestalt des evangelischen Pfarrers Matthias Leschhorn angesagt. Er ist, zusammen mit Dorothea Bienek, „einer der Sprecher“ des neugegründeten „Arbeitskreises Flüchtlingshilfe“.

Müller ist inzwischen erst richtig in seinem Element. Das Jackett hängt längst neben ihm, die langen Arme und Beine hat er über zwei Stühle ausgestreckt. Die „Basis“ ist den grünen PolitikerInnen immer auch Angstgegner. Der Ton ist zuerst einmal entsprechend vorwurfsvoll. Müller läuft zur Hochform auf. Die Methode ist einfach. Er nimmt die Menschen beim Wort, ahnt Argumente voraus und gibt ihnen vorab recht.

Rund 80 Zugangs-Ausweise zu der Asylunterkunft hat der Arbeitskreis in wenigen Wochen ausgegeben. Ungebetene Agitatoren, Drogen, die „Jungs mit den Goldkettchen“, die von außen versuchen, Zugang zu bekommen, und anderes Übel mehr könnten Einzug halten. Der Arbeitskreis fühlt sich angegriffen. Doch Müller entschärft: „Wir sitzen alle immer zwischen zwei Stühlen!“ Die Trennung ist einvernehmlich. Es soll gemeinsam über eine sinnvolle Form der Hilfe mit externen Angeboten und innerer Sicherheit nachgedacht werden.

Wieder draußen vor der Tür, schlägt der Praktiker in Alexander Müller zu. Er hebt den Deckel des Müllcontainers an. Die Plastiktüte mit den weggeworfenen Brötchen sage ihm mehr über die zwar reichliche, aber bisher ausgesprochen eintönige Verpflegung als alle Beschwerden. Und mit den Augenwinkeln hat er auch noch ganz nebenbei festgestellt, was den Kindern fehlt: „Die dachten, im Gemeinschaftsraum ist die Spielstube.“ Und das klingt gar nicht jungenhaft und kokett, sondern eher ein bißchen traurig.