„Mehr Schlagkraft als die Juden“

■ Moderate Muslime: für den britischen Muslimführer Siddiqui sind es Verräter

„Innerhalb von zehn Jahren werden wir mehr Schlagkraft in Großbritannien haben als die Juden“, sagt Kalim Siddiqui, der Direktor des Muslimischen Instituts im englischen Bloomsbury. Der 62jährige, der seit knapp vierzig Jahren in England lebt, gilt selbst bei vielen seiner GlaubensgenossInnen als extrem. Die Muslime in Großbritannien haben laut Siddiqui nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, ihre kulturellen und religiösen Werte aufrechtzuerhalten. Gewiß sollten sie die Gesetze des Gastlandes achten und nicht danach trachten, das Regime zu stürzen – vor allem aber müßten sie den islamischen Gesetzen gehorchen. So heißt Siddiqui auch das Todesurteil gegen den indisch- britischen Schriftsteller Salman Rushdie gut, das die iranische Regierung vor vier Jahren wegen des als blasphemisch empfundenen Buchs „Satanische Verse“ verhängt hatte. Einer Anklage wegen Aufruf zum Mord ist er deshalb nur knapp entgangen.

Seine erste, schlechte Bekanntschaft mit Großbritannien hat Siddiqui als elfjähriger Schüler gemacht: 1942 schoß ein britischer Soldat während der nationalistischen Aufstände im nordindischen Azamgarh auf ihn und tötete dabei den Jungen hinter ihm. 1948 ging Siddiqui nach Pakistan, sechs Jahre später nach England. Dort arbeitete er 18 Jahre lang als Journalist, davon acht Jahre als Redakteur für die Londoner Zeitung The Guardian. Nebenbei machte er Abitur, studierte und promovierte am Londoner University College.

1972 gab er den Journalismus auf und gründete mit ein paar Freunden das Muslimische Institut, dessen Direktor er wurde. Das Institut finanziert sich über Mitgliedsbeiträge und Spenden von Muslimen in der ganzen Welt.

„Islamische Revolutionen in der ganzen islamischen Welt“

„Wir waren davon überzeugt, daß sich westliches Gedankengut in die islamische Politik eingeschlichen hatte“, sagt Siddiqui. „Wir brauchten ein Institut, um uns auf intellektueller Ebene vom Westen zu lösen.“

Das, so glaubt er, ist inzwischen erreicht worden: „Die Muslime haben im großen und ganzen erkannt, daß wir islamische Revolutionen in der ganzen islamischen Welt brauchen.“ Vor zwei Jahren gründete Siddiqui ein muslimisches „nichtterritoriales Parlament“ in Großbritannien. Dessen Ziel ist es, die Muslime vor der „Lava des Hasses“ zu schützen, die das Establishment und die Medien über sie ausschütten, so Siddiqui.

Freilich wollen sich viele Muslime gar nicht von ihm schützen lassen. Hesham El-Essawy von der „Islamischen Gesellschaft zur Förderung religiöser Toleranz“, einer der Wortführer der moderaten Muslime, wirft Siddiqui vor, daß er keine Basis habe – und daß er mit seinen Haßtiraden die Situation für die britischen Muslime eher verschlechtere. Siddiqui wiederum tut Leute wie ihn als Verräter ab: „Diese sogenannten Moderaten, die ständig herangekarrt werden, um mich zu kritisieren, sind überhaupt keine Muslime.“

„Von Muslimen fordert man Unterwürfigkeit“

Dennoch ruft er in seinem Manifest für das islamische Parlament zur Einheit aller Muslime auf, um das Netzwerk von Moscheen in Großbritannien zu stärken und muslimische Interessen im öffentlichen Leben zu verteidigen. „Im heutigen Großbritannien fordert man von Muslimen Unterwürfigkeit und die Aufgabe ihrer Identität, Kultur und Religion“, kritisiert das Manifest. Das Ansinnen britischer PolitikerInnen, der Medien und weiter Teile der Bevölkerung, daß sich die im Lande lebenden Muslime mäßigen und britischen Traditionen anpassen sollten, weist Siddiqui denn auch zurück: „Tatsache ist, daß wir für die wirtschaftliche Erholung dieses Landes nach dem Zweiten Weltkrieg lebensnotwendig waren. Wir sind hier aufgrund historischer Bedingungen, die der Westen geschaffen hat. Wir waren Kanonenfutter in den Fabriken. Heute haben wir Familien, haben unsere Häuser und Schulden abbezahlt. Was wollen sie denn noch? Denken die etwa, daß sie uns jetzt auch noch beleidigen und beschimpfen können? Da irren sie gewaltig. Die demographische Karte dieses Landes ist für immer verändert worden.“ Ralf Sotscheck, London