: Schleichende radioaktive Verseuchung
Stillgelegtes armenisches Atomkraftwerk Oktemberjan droht außer Kontrolle zu geraten, seit das gesamte Land ohne Strom ist/ Gefährdet ist die nächste Umgebung/ Keine Explosionsgefahr ■ Von Donata Riedel
Berlin (taz) – Vor einem zweiten Tschernobyl warnen westliche Atomexperten, seit sie Zugang zu den AKW sowjetischer Bauart östlich der Elbe haben. Die erste größere radioaktive Verseuchung droht jetzt allderdings nicht von einem der noch laufenden Reaktoren des Tschernobyl-Typs RBMK, sondern von einem stillgelegten Atomkraftwerk des moderneren sowjetischen Typs WWER 440-230 in Armenien. Das AKW Oktemberjan kann seit Samstag nicht mehr gekühlt werden, weil ganz Armenien ohne Strom ist, seit die einzige Gaspipeline, die die Kaukasusrepublik versorgt, im georgischen Bezirk Marneuli nahe der Grenze zu Armenien explodiert ist. Nach Angaben georgischer Experten werden die Reparaturarbeiten mindestens bis Mitte kommender Woche dauern.
„Die Systeme des Atomkraftwerks, die derzeit ohne Stromversorgung sind, sind praktisch außer Kontrolle und stellen eine potentielle radioaktive Gefahr dar“, warnte der armenische Regierungschef Chosrow Arutjunjan am Mittwoch abend die Regierungen der Nachbarländer Georgien, Aserbaidschan, der Türkei und Iran über die Gefahr.
Im Unterschied zu Tschernobyl rechnen Experten im Fall Oktemberjan nicht mit einer Explosion, die Radioaktivität in großen Mengen über weite Strecken verteilen würde. Inge Lindemann von Greenpeace und Gerhard Schmidt vom Darmstädter Ökoinstitut rechnen mit einer schleichenden Freisetzung von Radioaktivität in der näheren Umgebung der beiden Reaktoren, die 50 Kilometer westlich der armenischen Hauptstadt Jerewan liegen. Zum Glück, so der Ingenieur Gerhard Schmidt, seien die Brennelemente schon soweit abgekühlt, daß ein Schmelzen der Brennelementkerne nicht mehr zu befürchten sei. Auch die kurzlebigen radioaktiven Anteile, wie Jod, seien stark abgeklungen. Allerdings sei, je nach Wetterlage, bis zu 30 Kilometern im Umkreis mit erhöhter Radioaktivität zu rechnen. Nach Schmidts Berechnungen dauert es zwei Wochen, bis das vorhandene Kühlwasser anfängt zu verdampfen.
Greenpeace-AKW-Expertin Lindemann forderte gestern die sofortige Bereitstellung von Energie für Armenien durch die Türkei, die über Überkapazitäten verfüge. Sie erinnerte daran, daß bereits im Dezember eine Vereinbarung zwischen der Türkei und Armenien über Stromlieferungen kurz vor dem Abschluß gestanden habe, die letztlich am politischen Widerstand des Bürgerkriegsgegners von Armenien, Aserbeidschan, gescheitert sei.
Schmidt wiederum hält den schnellen Stromanschluß Armeniens an die Türkei technisch für schwierig: um das gesamte armenische Netz wieder anzufahren, würde auf einen Schlag sehr viel Strom benötigt, weil vermutlich sämtliche Licht- und Heizgeräte in den Haushalten eingeschaltet seien. Er schäzt es darum für leichter ein, Notstromaggregate und Diesel per Tieflader in das Gebiet zu bringen. Zuvor müsse man aber nähere Informationen über die Situation vor Ort haben.
Das AKW Oktemberjan war Ende Februar/Anfang März 1989 nach einem Erdbeben abgeschaltet worden. Die bundesrepublikanische Atomlobby übte sich gestern im Abwiegeln. Für Klaus Köberlein von der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit ist die Stillegung der entscheidende Punkt: „Wenn die Brennelemente ordnungsgemäß gelagert wurden, besteht drei bis vier Jahre nach der Stillegung keine akute Gefahr.“ Das Material sei nicht mehr so heiß, und man hätte Tage Zeit, um mit einer Handpumpe Wasser zur Kühlung zuzuführen. Dies gelte aber nur, wenn die Brennelemente richtig gelagert wurden – was nach Erfahrungen von Experten mit GUS-AKW keinesfalls der Fall sein muß.
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