Aus dem Aquarium

Vom Gesehenen zum Gefundenen: Ulrich Wüsts Fotografien im Haus am Kleistpark – „Abschlussball“  ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

Vielleicht ist das neonerleuchtete Schulzimmerambiente des Hauses am Kleistpark nicht der ideale Ort für die Fotografien von Ulrich Wüst. Die Trübnis und Schäbigkeit der DDR, die Wüst darstellt und überhöht, verträgt keine Verdoppelung in noch so schwacher Form. Wüsts Fotografie gehört ins Museum.

Immerhin, der Künstler aus („Ost“-)Berlin hat Platz, um vier sehr unterschiedliche und eigentlich konkurrierende Projekte vorzuzeigen: „Notizen 1984/85“, „Abschlussball 1992“, „Nachlass 1991/92“ und „Vergangene Zukunft (1989/90)“. Die Arbeit „Vergangene Zukunft“ zeigt einen Fund, aber trägt auch Züge inszenierter Fotografie: Von Nagern durchlöcherte Ausgaben des Neuen Deutschland erinnern an die (typographische) Enge der fünfziger Jahre, den bizarren Kampf des Ulbrichtregimes gegen den Adenauerstaat. Die über Jahrzehnte vergessenen Zeitungen sind, einander teils verdeckend, mit der Akkuratesse von Collagen arrangiert. Wüst begreift die Zeitungen, in denen sich das Licht fängt und das Textile des Papiers sichtbar macht, als Bilder.

Die Arbeit „Abschlussball“, nach der die Ausstellung heißt, ist ein Tableau von 22 Portraitbildern stereotyp lächelnder junger Menschen: Detailvergrößerungen aus einer Gruppenaufnahme, die Wüst gefunden hat. Weil sie alle schwarze Augen haben, wirken die Männer und Frauen wie ein großer Clan. Allerdings kann man sich fragen, ob der serielle Zugriff die Uniformität der Lebensverhältnisse eher behauptet als belegt.

In der Serie „Nachlass 1991/92“ wird noch gezielter das im Westen längst nostalgisch besetzte Bild der liebenswert zurückgebliebenen DDR angesteuert. Die Farbfotografien zeigen Geschirr und Hausrat, mit kubistisch anmutender Artigkeit auf der himmelblau und weiß karierten Decke eines Küchentischs zusammengestellt. Obwohl die Serie streng entworfen ist, hat die Präsentation der Objekte wenig Zwingendes; anders als etwa die Arrangements gefundener Gegenstände von Raffael Rheinsberg, die einen sogar in fotografischen Abbildungen anspringen. Wüst ist offenbar als Sammler fündig, als Arrangeur zu konventionell und nimmt sich in dieser Arbeit als Fotograf zu sehr zurück.

Das ist schon deshalb verwunderlich, weil Ulrich Wüst in seinen „Notizen“ ohne explizierte Konzepte auskam. Der Akt des Findens mußte nicht extra vorgeführt, die Ikonographie nicht erzwungen werden. Sie schien ihm, dem wachen Fotografen in der Tradition Lee Friedlanders und Robert Franks, zuzufallen. Das Mitropa- Restaurant von Zwickau war in den Augen von Ulrich Wüst eine finstere Bühne, in der müde Marionetten dem Siebziger-Jahre- Plan ihres Lebens nachgehen. Das Bühnenbild der „Macbeth“-Inszenierung an der Volksbühne wiederum erschien ihm als abstruse Alltagsszene aus Berlin-Mitte, das Bühnendunkel als wirkliche Nacht. In der gespenstisch beleuchteten Betonszenerie vor dem Kongreß-Hotel in Karl-Marx- Stadt, bei geneigter Kamera, wäre ein Aufmarsch von Reptilien nicht wunderlich gewesen; und die Ansicht der berühmten Meißener Burg war durch die schlichten Säulen der Tankstelle („NORMAL/ Gemisch“) versiegelt, der Blick aus dem Auto als das stumme Staunen eines Fisches, aus der Binnenwelt des Aquariums.

Geschichtsraum ist, in dieser sehr komplexen Arbeit von Wüst, tatsächlich ein Raum. Wie jeder Raum, der einer Kritik unterzogen wird, offenbart auch dieser Raum seine kafkaeske Dimension, also die der Umkehrung der Bezüge von Außen und Innen, Geborgenheit und Gefangenschaft. Der Blick auf die Dinge und Orte ist eindringlich individuell – nah am Milieu, wie im „Kurzen Film über das Töten“ — und paradoxerweise gleichzeitig der eines Besuchers, eines Reisenden, wie in van Triers „Europa“. Die „Notizen“ sind frei von der zurückgelehnt lakonischen Haltung, mit der viele andere DDR-Fotograf(inn)en den verordneten Blick auf das Soziale durchgehalten und mit Eifer hintertrieben haben. Wüst braucht nicht die Melancholie des Katzenkopfpflasters, die plumpen Transparente, den Ekel der Aufmärsche. Seine Fotografien dokumentieren nicht den Umgang mit einem Dogma, sondern prägnante Erfahrungs-Räume des Landes, in dem er gelebt hat (und Architekt trotz Studiums nicht werden konnte oder wollte).

Man fragt sich, was ihn dazu bringt, die Intensität eines solchen Blicks gegen Konzepte zu tauschen, deren visuelle Effizienz nicht besonders hoch zu veranschlagen ist. Hoffentlich ist es ein Versuch, die Grenzen des Dokumentarischen auszuloten, bevor Ulrich Wüst zur Identität seines einst so sicheren Blicks zurückfindet. Daß die Symbole der DDR verschwinden, kann ihn daran nicht hindern. Sie sind sein Thema nie gewesen.

Ulrich Wüst: „Abschlussball“. Haus am Kleistpark, Grunewaldstraße 6/7, Di.–So. 12–18, Mi. bis 20 Uhr. Bis zum 7.2., Katalog „Abschlussball“ 15 DM, Kataloge „Abschlussball“ und „Trilogie“ im Schuber 34 DM