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Ein nüchterner Abschiedsgruß

■ Langsam verschwindet das „alte“ Italien. Doch was sind die Vorboten einer neuen Ära? In einem Land, in dem die Krise gemeinhin zum Normalzustand gehört?

Die Meere verdrecken, Fast- food-Schuppen verdrängen die trattorie, Landschaften werden verschandelt, ganze Dörfer an ausländische Tourismuskonzerne verscherbelt, und das Italien der Antike und der Renaissance, von professionellen Kunsträubern schamlos geplündert, wird man ohnehin bald nur noch in den Museen in Berlin, New York und Tokio finden. Doch Werner Raith, Italien- Korrespondent der taz und Autor einer Unzahl von Büchern über italienische Geschichte, Politik, Landschaften und Mafia, blickt nicht mit Wehmut auf ein Italien zurück, das schon lange nur noch in den Köpfen italophiler nordländischer Zeitgenossen existiert. Der Titel seines neuesten Sammelbandes, „Addio bella Italia“, ist ein nüchterner Abschiedsgruß an ein Italien, das sich an einem Wendepunkt befindet. Das Land, in dem die Krise scheinbar zum Normalzustand wurde, steht nun wirklich an dem Punkt, den die alten Griechen krisis nannten, jenem Punkt, wo es sich entscheiden (griechisch: kritein) muß.

Bislang haben sich die Italiener irgendwie durchgewurstelt — mit Phantasie, Kreativität und erstaunlicher Improvisationsfähigkeit. Arrangiarsi, „sich zu helfen wissen“, „es irgendwie hinkriegen“, war die individuelle und auch die kollektive Überlebensstrategie. „Mi arrangio“, sagt die arbeitslose Frau, die sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält, „Mi arrangio“, sagt auch der napolitanische Junge, der geparkten Autos die Scheibenwischer abmontiert, um sie ein paar Straßenzüge weiter wieder zu verhökern. Und auch der Staat „arrangiert sich“ eben, so gut es geht: mit Notmaßnahmen, Sonderdekreten und Ad-hoc-Gesetzen, die mitunter rückwirkend in Kraft gesetzt werden, mit kurzfristigen Lösungsversuchen, die die Frage nach dem Morgen und Übermorgen eben auf morgen und übermorgen vertagen.

In mehreren Essays und Reportagen trägt Raith die Elemente zusammen, die darauf hindeuten, daß diese Strategie, die es Italien bisher erlaubt hat, sich anzupassen, zu transformieren und zu regenerieren, künftig nicht mehr greifen wird. Und die Italiener, ein europäischer Stamm, dem ganz zu Unrecht ein Hang zum dolce far niente unterstellt wird, ahnen es. Von daher ihre Zukunftsängste.

Wo sich Wandel ankündigt, erscheinen zuerst nicht die neuen Politiker, sondern Volkstribunen, Hoffnungsträger verunsicherter Massen. Zwei davon hebt Raith besonders hervor: Leoluca Orlando und Umberto Bossi. Orlando, christdemokratischer Ex- Bürgermeister von Palermo, hat nach seinem Parteiaustritt eine Gruppierung mit dem Namen „Rete“ (Netz) auf die Beine gestellt, deren Hauptkampf der Mafia und den mafiosen Strukturen gilt und die bei den Regional- und Gemeindewahlen 1991 auf der Insel beachtliche Erfolge erzielte, in Palermo selbst auf Anhieb zur stärksten Partei avancierte und inzwischen in ganz Italien Präsenz zeigt. Am andern Ende des Stiefels hat Umberto Bossi seine „Lega nord“ aufgebaut, eine populistische Partei, bei der durchaus rassistische Untertöne mitschwingen, deren Hauptziel aber in drei Worten besteht: weg von Rom. Der reiche Norden möchte die vermeintlichen Entwicklungshemmer, den armen Süden und den bürokratischen Wasserkopf Rom, abkoppeln. Die „Rete“ wie auch die „Lega nord“ sind in unterschiedlicher, ja gegensätzlicher Weise eine Herausforderung für den „Palazzo“, das Machtkartell der politischen Klasse in Rom.

Sein zentrales Anliegen, den Leser für die unterschwelligen Entwicklungen Italiens zu sensibilisieren, verfolgt Raith vorzugsweise auf anekdotischem Weg. Doch auch sozialgeschichtliche Aspekte führt der Autor immer wieder ein, und manchmal schlägt er den Bogen über zweieinhalbtausend Jahre römisch-italienische Geschichte so kühn, daß der Verdacht aufkommt, hier würden schlichtweg ohne weitere Untermauerungen volkspsychologische Konstanten behauptet.

Doch ist solches im wesentlichen eben nur dem essayistischen Zugang zur Materie geschuldet. Der Leser mag notfalls darüber hinwegsehen, zumal er ja nicht nur erfährt, weshalb es in Neapel mehr Transvestiten gibt also anderswo, sondern auch, weshalb auf der Umgehungsstraße der Metropole des Südens fliegende Händler weiße Hemden mit handbreitem diagonalem schwarzen Streifen feilbieten: in Italien herrscht Anschnallpflicht. Der Einbau der Sicherheitsgurte kostet im billigsten Fall 50.000 Lire, eine Verwarnung 30.000, das T-Shirt aber, das den Straßenpolizisten täuscht, nur 10.000. Schönes Italien, ciao! Thomas Schmid

Werner Raith: „Addio bella Italia. Wandel im Land unserer Träume“. Knesebeck-Verlag, München 1992, 204 Seiten, 32DM

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