Gruppenzwang für Osteuropa

Polen, die Tschechische Republik, die Slowakei und Ungarn hoffen auf EG-Beitritt/ Letzter Teil der taz-Serie über den EG-Binnenmarkt  ■ Aus Budapest Keno Verseck

Nicht nur in der EG kriselt es. Auch die von ihr angeregte Visegrader Gruppe, bestehend aus Ungarn, Polen und der Ex-ČSFR, ist unter den Vertragspartnern umstritten. Als der tschechische Regierungschef Václav Klaus vor einigen Wochen verkündete, Visegrad interessiere sein Land nicht und sei eine künstliche Erfindung der EG, löste er damit hektische amtliche Aktivitäten in Ungarn aus. Klaus habe die Zusammenarbeit der Visegrad-Länder nicht ausgeschlossen, beeilte sich der ungarische Außenminister Géza Jeszenszky zu versichern. Er sei, genau wie Ungarn, weiterhin an der Ausweitung der regionalen Beziehungen interessiert.

Hinter dem fünftägigen diplomatischen Verwirrspiel verbergen sich handfeste Interessen. Mit der Vereinigung von Polen, der ČSFR und Ungarn als Visegrader Gruppe – so benannt nach der alten ungarischen Fürstenstadt, in der das erste Treffen der Staatschefs Walesa, Havel und Göncz stattfand – hatte die EG den drei Ländern einen schnellen Abschluß der Assoziierungsverhandlungen in Aussicht gestellt. Zu einer Bedingung machte sie offenbar auch die Visegrader Freihandelszone, die am 21.Dezember letzten Jahres beschlossen wurde und voraussichtlich noch in diesem Jahr in Kraft tritt.

Während die EG damit einer weiteren Zersplitterung des osteuropäischen Wirtschaftsraumes vorbeugen will, fühlt sich mittlerweile vor allem die Tschechische Republik in ihren Bemühungen um eine schnelle EG-Mitgliedschaft behindert. Allein, oder mindestens ohne die Slowakei, habe die ČR als fortgeschrittenstes und stabilstes mittelosteuropäisches Land die besten Aussichten, schnell EG-Mitglied zu werden – so kalkuliert Klaus. Ungarn hingegen fürchtet, daß sich der Zerfall des Visegrad-Bundes auf die eigene EG-Integration negativ auswirkt.

Klaus' noch einmal gütlich beigelegter diplomatischer Ausrutscher ist indessen nur die vorläufig letzte Episode in einem manchmal fast verzweifelten Bemühen: dem Bemühen der osteuropäischen Länder um den EG-Beitritt. Schon als die EG 1990 mit Polen, der ČSFR und Ungarn Verhandlungen über Assoziierungsverträge aufnahm, machte sich schnell Ernüchterung unter deren Vertretern breit: Mit ihren Zugeständnissen überschritt die EG kaum die Grenze des für sie problemlos Machbaren.

Für Polen, die ČSFR und Ungarn hingegen ging es um existentielle Fragen. Nachdem die RGW- Länder auf ihrem Territorium im Januar 1991 die Dollarabrechnung eingeführt hatten, brach der Handel zwischen ihnen schlagartig zusammen. Vor allem der einst wichtigste Handelspartner Sowjetunion fiel aufgrund seines Devisenmangels als Absatzmarkt aus.

Die ökonomische Schockwirkung war drastisch: in Polen und Ungarn sank das Bruttosozialprodukt im selben Jahr jeweils um rund 10 Prozent, in der ČSFR um 16 Prozent. Um den wirtschaftlichen Verfall aufzuhalten, waren sie unter anderem gezwungen, ihre Handelsströme schnell und effektiv gen Westen umzuleiten – ein Vorhaben, bei dem sie sich wesentliche Hilfe von den EG-Assoziierungsverträgen erhofften.

Diese Abkommen sehen vor, zwischen der EG und den drei Ländern bis zum Jahr 2000 eine vollständige Freihandelszone für Waren, Dienstleistungen und Kapital zu schaffen. Auf dem Weg dahin werden Zölle und Einfuhrkontingente zum Teil sofort, zum Teil stufenweise abgebaut, wobei die sogenannte Asymmetrie der Verträge es der Visegrader Gruppe ermöglicht, ihre Handelsschranken langsamer zu öffnen als die EG.

Außerdem bieten die Verträge den drei Ländern technische Hilfe, Rechtsangleichung, wissenschaftliche und technische Kooperation und einen politischen Dialog auf dem Weg zur EG-Mitgliedschaft an. Ein konkreter Zeitpunkt für den Beitritt wird jedoch nicht in Aussicht gestellt. Da die Verträge noch nicht von allen Parlamenten der EG-Staaten ratifiziert wurden, gelten seit dem 1.März 1992 und bis zum Inkrafttreten der Verträge sogenannte Interimsabkommen, mit denen der Abbau der Handelsschranken bereits jetzt umgesetzt wird.

Im Falle Ungarns zum Beispiel erhebt die EG auf Industrieexporte, die nicht zum Chemie-, Stahl- und Textilbereich gehören, seit 1.März letzten Jahres keine Zölle mehr. Zölle und Mengenbeschränkungen für Stahl- und Textilprodukte werden in einem Zeitraum von fünf bis sechs Jahren abgebaut. Für Agrarprodukte sieht das Abkommen vorerst keinen vollständigen Freihandel vor; die Beschränkungen werden lediglich bis zu einem gewissen Grad aufgehoben.

„Bei genauerem Hinschauen stellt man fest, daß sich die EG nicht besonders großzügig gezeigt hat – vor allem in den sensiblen Bereichen Stahl, Textilien und Landwirtschaft“, so László Csaba, Wirtschaftswissenschaftler und Berater des ungarischen Finanziministers Mihály Kupa. „Der Stahl-Anteil an den ungarischen EG-Exporten ist mit fünf Prozent so gering, daß es durchaus mehr Zugeständnisse hätte geben können. Anderseits überschätzt man die Verträge, wenn man sie als Lokomotive sieht. Diese Verträge sind als Rahmen für die Institutionalisierung nicht schlecht. Die ökonomische Dynamik muß aber von den jeweiligen Wirtschaften selbst kommen.“

Angesichts der Rezession, die auch die EG-Wirtschaften erfaßt hat, sind ungarische Wirtschaftspolitiker heute zufrieden mit dem, was sie gegenüber der EG vor einem Jahr erreichen konnten. Denn aufgrund seiner Exportstruktur hat Ungarn im Vergleich zu Polen und der ČSFR die besten Handelschancen.

„Es hat sich zwar gezeigt, daß die konkreten Vereinbarungen nicht eine so liberale Handelsphilosophie enthalten wie in den Erklärungen, aber insgesamt ist der Vertrag gut und hat durchaus positive Wirkungen“, so Endre Juhász, Leiter des Büros für Europäische Angelegenheiten im ungarischen Außenwirtschaftsministerium. Allein im letzten Jahr konnte das Land seine EG-Exporte um 20 Prozent steigern; der EG-Anteil der Ausfuhren erreichte damit erstmals mehr als 50 Prozent, wobei auf Deutschland 27 Prozent entfielen.

Für dieses Jahr prognostiziert Juhász eine Steigerung der EG- Exporte um rund 10 Prozent. Ungarn will den Vertrag ausbauen, vor allem im Bereich der Agrarprodukte, die mit einem Viertel zu Ungarns EG-Exporten beitragen. Außerdem will das Land weitere Arbeitskräfte-Austausch-Abkommen mit EG-Mitgliedsländern abschließen. Dafür stehen die Chancen allerdings schlecht. Deutschland, mit dem Ungarn bis jetzt als einziges Land eine derartige Vereinbarung getroffen hat, hat allerdings schon angekündigt, daß das geplante Arbeitskräfte-Kontingent wieder verringert werden soll.

Auch Polen und die ČSFR konnten im letzten Jahr beachtliche Exportsteigerungen erzielen und führen mittlerweile rund 50 Prozent ihrer Waren in die EG aus, davon wiederum mehr als die Hälfte nach Deutschland.

Zufriedenheit über die Assoziierungsverträge herrscht allerdings in den beiden Ländern kaum. Vor allem wegen des Billigstahls, der für beide Länder einen wesentlichen Teil ihrer Exporte ausmacht, hat die EG mittlerweile Mengenbeschränkungen angekündigt. Die Assoziationsverträge erlauben Deutschland, Frankreich und Italien außerdem Anti-Dumping- Maßnahmen gegen Billigstahl zu ergreifen, was im Falle beider Länder bereits ernsthaft erwogen wurde.

Kritik an dieser Praxis wird mittlerweile auch in der EG selbst laut. Man dürfe den osteuropäischen Ländern nicht nur mit Worten helfen, meinte kürzlich Sir Leon Brittan, verantwortliches Mitglied des EG-Außenwirtschaftsausschusses. „Die beste Hilfe für die ehemaligen sozialistischen Länder ist, wenn wir unseren Markt für sie besser öffnen als bisher.“