■ 30. Januar 1933 – Warum sich die nichtfaschistischen Parteien in der Einschätzung Hitlers und des Nationalsozialismus irrten und was die Bundesrepublik daraus lernen könnte
: Historische Fehlkalküle – damals und heute?

Was hindert Politiker, zu deren Job es doch gehört, gesellschaftliche und politische Trends zu „riechen“, eigentlich daran, rechtzeitig eine Gefahr zu erkennen, die sogar für sie selbst existenzbedrohend ist? Im Licht der späteren Ereignisse, von der „Gleichschaltung“ der Jahre 33/34 über den Zweiten Weltkrieg bis zur bedingungslosen Kapitulation erscheint uns heute die Reaktion der nichtfaschistischen Weimarer Parteien auf die nationalsozialistische „Machtergreifung“ als eine einzige gigantische Fehlwahrnehmung.

Von Links bis Rechts war der kleinste gemeinsame Nenner dieses Irrtums, daß Hitler und die von ihm verkörperte gesellschaftliche Dynamik in unbegreiflicher Weise unterschätzt wurden. Was waren die Ursachen für diese verstellte Optik? Klassen- bzw. schichtenbedingte Einengung des Gesichtsfelds, die die Akteure glauben machte, die Herrschaft der Nazis sei nur eine Staffage, ein kurzlebiges Intermezzo, nur der Geburtshelfer dessen, was eigentlich nottat? Strategien dieser Art, die scheitern mußten, weil sie nur von der Stärke der eigenen Bataillone ausgingen und glaubten, den Wind der Geschichte im Rücken zu haben, gab es sowohl bei den Konservativen als auch bei den Kommunisten. Wir sollten uns aber hüten, aus dem Knäuel subjektiver Erfahrungen, Leidenschaften und Erwartungen, das die Politiker damals bestimmte, nur einen Faden herauszuziehen, den des fehlgeleiteten rationalen Kalküls.

Am ehesten kann man Züge eines solchen Kalküls noch bei der Rechten, den Deutschnationalen und ihrem (schwer)industriellen Anhang, ausmachen. Der durchschnittliche bürgerliche Politiker der Rechten sah im Nazi den Plebejer, tauglich, um die Arbeiterorganisationen zu ducken und den autoritären Staat aufzurichten, aber nicht gut genug, um ihn zum Abendessen einzuladen. Die Konservativen durchschauten die antikapitalistische Phraseologie der Nazis, und Hitlers Zusicherungen in den drei Verhandlungen des Januar mit den Deutschnationalen bestätigten sie in der Geringschätzung des Führers. Hugenberg war für sie der kommende starke Mann.

Paradoxerweise hatte das kommunistische Lager mit der Parole „Wer Hindenburg wählt, wählt Hitler, wer Hitler wählt, wählt den Krieg“ die politische Entwicklung exakt vorausgesagt, aber in ihrer Strategie alles getan, damit diese Schreckensprognose zur Wirklichkeit werde. Indem sie das Papen-Kabinett als Regierung „der Durchführung der faschistischen Diktatur“ charakterisierten, indem sie in der SPD nur eine linke Variante des Faschismus sahen, machten sie sich blind gegenüber der realen Gefahr. Für die kommunistische Führung hatte Hitler nur die Funktion, den Konflikt „Klasse gegen Klasse“ bis zur Entscheidungsschlacht zuzuspitzen.

Es wäre aber falsch, in dieser Linie nur das Werk einer realitätsblinden Führungsclique zu sehen. Der Siegeszug der Kommunisten schien unaufhaltsam. Und seit dem Blutmai 1929 gab es gerade bei den einfachen Aktivisten der Partei einen bohrenden Haß auf die „Sozialfaschisten“, der angesichts des Verhaltens sozialdemokratischer Betriebsräte und Polizisten täglich neue Nahrung erhielt.

Die Sozialdemokraten schließlich hielten als staatstragende Partei bis zum bitteren Ende daran fest, daß Weimar durch eine Koalition mit den republikanischen Teilen des Bürgertums verteidigt werden könne. Man kann nicht sagen, daß die SPD-Führung Hitler verharmlost hätte. Aber es stand für sie fest, daß die SPD als gefestigte Arbeiterorganisation die faschistische Herrschaft durchstehen würde. Die Sozialdemokraten würden eben wieder Illegale sein, wie unter dem Kaiserreich, eine geschichtliche Periode, die emotional wie intellektuell die kollektive Erfahrungsquelle für die Mitglieder bildete: die Organisation als Gegengesellschaft.

Ein falsches Selbstbild und ein falsches Bild vom Gegner, hervorgerufen durch überkommene Identitätsvorstellungen und einen Objektivismus, der die eigenen Interessen als geschichtlich notwendige ausgab – dies alles aufs äußerste verschärft durch die Unfähigkeit, mit der Gefühlslage umzugehen, die den Elendswinter 1932/33 beherrschte. Ernst Bloch hat schon in den dreißiger Jahren die Unfähigkeit der deutschen Demokraten, vor allem aber der Arbeiterbewegung beklagt, eine Sprache der Emotionen zu finden, die die Leidenschaften nicht instrumentalisiert, die aufklärerisch bleibt, aber doch den Kränkungen, den Aggressionen, den Sehnsüchten und Wunschbildern der Menschen ihren Ausdruck und ihr Recht verschafft.

Haben die Politiker unserer Tage aus der verstellten Perspektive wie aus der dürren emotionalen Ausstattung des Weimarer Politikertypus gelernt? Bonn ist nicht Weimar – wir haben nach Rostock und Mölln alle Argumente zu diesem Thema gehört –, und sie sind überzeugend. Die Stabilität der sozialen Beziehungen und der unumkehrbare „Verwestlichungsprozeß“ der BRD verbietet jede Analogie. Aber ebenso offensichtlich ist, daß nicht nur die Parteien, sondern wir alle dazu neigen, uns mit dieser Feststellung gegenüber den realen Gefahren des rassistischen Terrors zu immunisieren.

Wie Ernst-Otto Hondrich in seinem jüngsten Essay herausgearbeitet hat, verfehlen die Bonner Parteien auf gefährliche Weise die Gemütslage der Menschen sowohl in den alten wie in den neuen Ländern. Die Regierungskoalition sieht sich als Sozialingenieur, der die Angleichung der Lebensverhältnisse des Ostens an den Westen mit den bewährten Instrumenten der Marktwirtschaft betreibt. Sie kann und will die gesellschaftliche Dimension der Vereinigung nicht aufnehmen. Wo sie an Emotionen rührt, da in gegenaufklärerischer, demagogischer Absicht – wie in der Frage des Asyls. Die SPD aber schwankt zwischen Kalkülen der Besitzstandswahrung und dem Appell an die nationale Opferbereitschaft. Beide großen politischen Lager sind sich einig in der Verurteilung terroristischer Gewalt. Aber weil sie die Vereinigung nicht gesellschaftlich denken, nehmen sie die Probleme des Vereinigungsprozesses nicht als gesellschaftliche wahr. Noch den Protest gegen den faschistischen Terror wollen sie politisch instrumentalisieren. Sie setzen allein – und das spät genug – auf die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols. So entgeht ihnen die eigentliche Gefahr: daß Brandstiftung und Mord wie in der Weimarer Republik zu einem normalen Bestandteil des Alltagslebens werden.

Wir erleben perverse Konstellationen, wo Zusammenrottungen vor Flüchtlingsheimen zur politischen Manövriermasse werden, mit deren Hilfe man um die Erhöhung der Hilfsgelder feilscht. Entweder ihr zahlt, oder wir können für nichts garantieren. Die Gewöhnung an den Terror ist wie die Gewöhnung an die Freikorps und die SA, ihren Nachfolger. In beiden Fällen werden moralische Konventionen über das, was Bestandteil des täglichen Zusammenlebens sein kann, zerstört. Die Menschen, die sich in diesem Winter den Lichterketten anschlossen, haben diesen Zusammenhang begriffen. Die Politiker nicht. Das ist die Fehlwahrnehmung in zeitgenössischer Gestalt. Christian Semler