Wendeblutwurst

■ „Wendewut“-Premiere am Samstag im Schauspielhaus: choreographisches Theater von Johann Kresnik angesichts Deutschlands

Was ist, wenn die Apokalypse blutleer wäre? Wenn sie zwar alles aufbieten würde an Geschmacklosigkeit, Halsbruch und Piffpaffpuff, aber wir müßten immer dran denken, ob wir zu Hause auch das Licht ausgemacht haben? Man wäre doch verdutzt, hielte sich manchmal die Ohren zu, wenn's zu doll knallt und zischt und würde auch mal genauer hinkucken, wenn grade Nackte durchs Bild laufen. Aber sonst könnte man sich glatt dran gewöhnen, daß der eine Tusch immer schon den andern nach sich zieht, ohne uns das Herz zu verdrehen. Haben wir uns dafür so schlecht benommen, daß wir zum Schluß bloß im Heino-Inferno umkommen?

Folgt man Kresnik, dann ist aber die zeitgemäße Apokalypse genau so: eine Mischung aus abgestandenem Hexenkessel, Heino und mitheulenden Wölfen. Und dazwischen die Menschen sind sich noch ein Dorn im Auge, während sie schon trudeln. Trotzdem läßt es eine relativ kühl, weil sich das Volk bei Kresnik so oder so nur aneinander abarbeitet und keine Gesichter mehr hat.

Das liegt vermutlich auch an der Vorlage, Günter Gaus' „Wendewut“-Erzählung von 1990: ein unglaublich schlechtes Buch, karg und knöchern hingemurkst, das man dem zuständigen Lektor heute noch um die Ohren hauen müßte. Gaus rankt um eine namenlose DDR-Frau alles zum Thema Mitlaufen, was man sonst in Spiegel-Essays lesen muß — und was eben ein Kommentarjargon so hergibt, wenn er plötzlich Prosa werden soll. Vor Reflexionsanstrengung treten da die Kommata wie Halsschlagadern aus den Sätzen hervor.

Gut, jetzt also Kresnik, der pralle Berserker: pickt sich die Frau ohne Eigenschaften heraus und gibt ihr noch Honecker und zwei Sowjetsoldaten bei. Und zeigt uns dann, am 60. Jahrestag der Machtübernahme der Nazis, wie Destruktion geht. Die geht so: Man tanzt im Bauernstaat auf Kartoffeln wie auf Eiern, vernäht Menschen in Plaste und Elaste oder läßt den Wolf los. Wirklich springt die Stasi mit Wolfsmaske den trostlosen Graukitteln an den Hals; und wir fragen uns redlich: ist es Markus, ist es Rotkäppchen, der des Menschen oder bloß ein Schäferhund? Jedenfalls jagt der Wolf erst diesen, dann jeden und kriegt danach, wie wir wissen, selbst was aufs Maul.

Ein bleiches Puppenmonster in Brille, Hut und Mantelsack hat uns als Wachsfigur auf rot und gold ummauerter Bühne in Empfang genommen: s'ist Honecker, wie er leibt und lebt. Ein ängstliches Klammeräffchen, das sich an den Hälsen der Rotarmisten entlanghangelt oder rumsitzt. Noch knabbert die Mitläuferin an seinem Ohrschmalz, windet sich in seinem fruchtlosen Schoß. Im Hintergrund das graue Mausvolk stößt sich an und ab, bringt sich paarweise zu Fall, hilft sich auf, eine Gesellschaft von Stoßmichziehdichs.

Später, da sind wir schon beim Erinnern angekommen, füllt ein SS-Mann Honecker, als er noch Opfer ist, Eier in die entsetzlich lächerliche Unterhose und zerdrückt sie. Das ist ein ausgesprochen abstoßendes Bild und hat doch die Qualität einer quälenden Verstörung. Welches Bild kann das heute noch von sich behaupten? Kresnik ist virtuos, wo er die Gewalt auf uns zurückwirft; wo er als einer der wenigen deutschen Regisseure die deutsche Neo-Scheiße Altscheiße nennt und dampfend auf die Bühne bringt. Da muß man uns zu ihm beglückwünschen. Schließlich ahnt man plötzlich, wie kostbar Friede, Freude, Eierkuchen in Wirklichkeit sind.

Wo er aber nur noch Klischees paradieren läßt und seiner Gewalt freien Lauf läßt, da wird er beliebig, tätlich und langweilig. Die Westler kommen dann eben im goldenen Trachtenlook, die Mitläuferin aus dem Osten muß sich ausziehen lassen und wird von ihren eigenen Leuten vollgestempelt, merke: abgestempelt. Als sich die riesige Mauer aus dem Hintergrund löst und also öffnet, wissen wir längst: die Mauer ist unter uns. Schon die gegenseitige Umarmung sieht aus, als wollten sich alle erschlagen. Das Schlußbild zerfranst in rasender Hysterie: ein Clown mit erigiertem Penis, eine schwarze Jüdin, eine Heino-Fraktion, eine Musik zwischen Hendrix, Höllenorgel und Düsenjäger schuften und schuften, uns endgültig das Grausen zu lehren.

Natürlich wird nicht mehr getanzt, man zuckt und zappelt, reitet sich zuschanden und taumelt in Veitstanzkrämpfen, verheddert sich in den eigenen Strümpfen und renkt sich die Glieder aus, ohne von sich loszukommen. Auch wir sehnen uns nach Erlösung. Aber die kommt nicht vom Theater. Artiger Applaus. Ein Bravoruf. Claudia Kohlhase