Bricht nichts aus?

■ Das Ensemble Modern zeigt „El Cimarrón“ von Hans Werner Henze

111 Jahre war Esteban Montejo alt, als Hans Werner Henze ihm 1969 begegnete. „Ich hatte noch nie so einen alten Mann gesehen. Er war baumlang, ging langsam und hochaufgerichtet, seine Augen waren lebendig, er strahlte Würde aus, schien sich klar darüber, eine historische Persönlichkeit zu sein.“ Die Lebensgeschichte des „Cimarrón“, des entlaufenen Sklaven Esteban Montejo, die dieser dem kubanischen Schriftsteller Miguel Barnet erzählt hatte, wurde Sujet von Henzes „Recital für vier Musiker“ (Bariton, Flöte, Schlagzeug und Gitarre), das am Wochenende im Hebbel Theater gezeigt wurde.

Am Anfang streicht der Flötist mit einem Geigenbogen über den Rand eines hängenden Beckens, der Schlagzeuger versetzt seine asiatische Tempelglocke in Schwingung, der Gitarrist streicht die Saiten mit einem Bogen. Der schwebend-fremdartige Klang untermalt das Märchen von den Zaubergöttern und der List der weißen Sklavenhändler, mit der die Erzählung beginnt. Der farbige Sänger William Pearson – er wirkte schon bei der Uraufführung von „El Cimarrón“ mit — berichtet im Sprechgesang, der manchmal zum grellen Falsett aufsteigt, manchmal zu sanften Baritontönen herabsinkt, von der Jugend als Sklave auf den Zuckerrohrfeldern, von der Grausamkeit der Aufseher, von der Flucht und dem versteckten Leben im Wald. Und von der Sklavenbefreiung und dem Kampf gegen die weißen Ausbeuter. Die Texte von Hans Magnus Enzensberger erinnern in ihrer einprägsamen Schlichtheit an Brecht: „Einer allein richtet nicht viel aus“, hat der Cimarrón gelernt und ruft anklagend: „Bricht denn nichts aus?“

Den Instrumentalisten bleibt in dem für Henze ungewöhnlich experimentellen Stück viel Freiheit. Im zwölften Stück „Die Schlacht von Mal Tiempo“ besteht die Partitur zum Teil nur aus graphischen Zeichen, die zur Improvisation anregen sollen. Hans-Martin Müller, Rainer Römer und Jürgen Ruck vom Ensemble Modern stürzen sich an dieser Stelle auf das Schlagzeug, die Gongs und das Donnerblech. Ihre Kampfrufe untermalen Estebans grausig-komische Schilderung der abgehackten Spanierköpfe im Zuckerrohr. Auch in „Flucht“ dürfen die Musiker improvisieren. Während die Rhythmen atemloser werden, laufen sie zwischen ihren exotischen Instrumenten hin und her, rufen ins Megaphon, schlagen die Bongotrommeln, während das Licht rot, blau und grün flackert.

Meisterhaft verweist die funktionale Bühnenausstattung auf den Inhalt des Stücks. Ein Wellblechzaun schließt den Hintergrund ab, Notenständer, Xylophon, Marimba und Donnerblech glitzern metallisch. Wie im rechten Winkel geknickte Leitern sehen die Stühle für die Aufführenden aus, so daß ihre Lehnen flimmern, als ob es tausend Stäbe gäbe. Während dieser Aufbau Gefängnisassoziationen wachruft und so als Bühnenbild dient, macht die Partitur umgekehrt das einzige Requisit zum Musikinstrument: Die schwere Eisenkette donnert wuchtig zu Boden, als Esteban dem Sklavenaufseher einen Stein in die Fresse wirft und flieht. Da Pearson Mimik und Gestik sonst nur verhalten einsetzt, sind Ausbrüche wie dieser um so eindrucksvoller.

Von den Extremen wandert die Musik immer wieder zu den „natürlichen“ Klängen zurück, „zum Zentrum der Instrumente“, wie Henze in einem Werkbericht schrieb. Melodiöse, liedhafte Stellen enthält nicht nur die Gesangspartie, sondern auch die Gitarren- und die Flötenstimme. Damit vermischen sich immer wieder Fetzen kubanischer Tänze und afrikanische Rhythmen. Am Ende, als der Cimarrón entschlossen verkündet, nicht sterben, sondern weiterkämpfen zu wollen, kehren die verfremdeten Klänge vom Anfang wieder. Die Spannung hält an bis zum letzten Ton. Miriam Hoffmeyer