■ Kosmische Energie über St. Petersburg
: Gesund – dank „Extrasens“

St. Petersburg (taz) – „Setzen Sie sich hin, und stellen Sie vor Ihren Füßen zwei brennende Kerzen auf. Die Flammen werden das Schlechte fressen und Ihnen positive Energie zuführen.“ Rosa Pawlowna, die mir diesen Rat gibt, arbeitet als Therapeutin am „Institut für Barmherzigkeit und Heilkunde“ im russischen St. Petersburg. Immer mehr EinwohnerInnen der Newa-Metropole sind von Inflation und Arbeitslosigkeit im Übergang vom Sozialismus zum Kapitalismus gebeutelt und suchen Zuflucht in der Heilmethode „Extrasens“. Die Praxen der Volksbeglücker schießen wie Pilze aus dem Boden, und selbst im russischen Fernsehen haben die Muntermacher schon Sendezeit erobert.

Im Hof des Instituts für Barmherzigkeit stehen zwei Ami-Schlitten. Der Behandlungsraum dagegen läßt gehobenen Standard vermissen: Mit Plastik-Stellwänden ist er in zehn Therapiezellen unterteilt. Das von rechts und links deutlich zu vernehmende Gebrabbel stört Rosa Pawlowna nicht bei der Konzentration auf die beiden Wünschelruten, die sie mir vor den Bauch hält. Die längeren Seiten der zu rechten Winkeln gebogenen Metalldrähte zielen direkt auf mein Inneres. Da verfinstert sich die Miene der Therapeutin: 50 Zentimeter von meinem Körper entfernt drehen sich die unbestechlichen Detektoren in Pawlownas Händen um 180 Grad. „Ihr Energiefeld ist gestört“, diagnostiziert die Seelenmasseurin. „Jemand ist in ihr Feld eingedrungen.“ Eine Analyse, die bei vielen PetersburgerInnen auf fruchtbaren Boden fallen dürfte, wenn sie in den Geschäften erfahren, daß die Wurst heute doppelt soviel kostet wie gestern. Nach der Analyse folgt der Heilungsversuch. Rosa Pawlowna sitzt mir gegenüber, streckt ihre Arme in meine Richtung und wedelt mit den Händen, als wollte sie Fliegen verscheuchen. Ihre Finger zucken. Von oben nach unten tastet sie mein Energiefeld ab, bemüht sich, das Loch zu finden und abzudichten. Nach einer Viertelstunde kontrolliert sie ihre Arbeit mit Hilfe der Metalldrähte, und siehe da: Mein Feld beträgt jetzt schon 1,50 Meter. Neben einer weiteren Therapiesitzung empfiehlt sie mir noch, täglich in die Kirche zu gehen.

Im anschließenden Gespräch erläutert die Chefin des barmherzigen Instituts die theoretischen Grundlagen meiner fortschreitenden Gesundung dank „Extrasens“. Diese Methode bereite die Menschen durch Zuführung kosmischer Energie auf die Zukunft vor. Ziel sei es, in jedem Russen eine gesunde Dreifaltigkeit aus Geist, Körper und Moral herzustellen, erklärt die Dunhill rauchende Swetlana Gorenburg. Russische Politiker wie Gorbatschow, Jelzin und Gaidar seien krank, der US-amerikanische Ex-Präsident George Bush hingegen gesund. Ihm gelinge es, die Angriffe auf sein Energiefeld abzuwehren. Der mystisch verbrämte Fingerzeig nach Westen kostet die PetersburgerInnen 300 Rubel pro Sitzung – für viele mehr als zehn Prozent eines Monatseinkommens. „Extrasens“-Chefin Gorenburg hat bis vor kurzem als Ökonomin in der Industrie gearbeitet und weiß, welche Strategie wirtschaftlich angesagt ist. Hannes Koch