Derridada in Chichina

Hat man den Gedanken, vergißt man die Worte: Chinesische Kunst nach Tiananmen  ■ Von Harald Fricke

Europa ist kulturell nur wenige Wochen nach der Vereinigung auf dem Posten. Um das Ausstellungsprojekt „China Avantgarde“ zu bewerkstelligen, haben sich Museen und Kunstinstitutionen aus Berlin, Rotterdam, Oxford und Odense gegen die Konkurrenten Hongkong und Australien zusammengetan. Zur Pressekonferenz gibt sich Wolfger Pöhlmann, der das Projekt im Haus der Kulturen der Welt in Berlin geleitet hat, dennoch weniger siegreich denn bedachtsam. Man habe den Wettstreit um die „ästhetische Sensation“ nicht gewollt, obwohl er verstehen könne, daß „viele Institutionen ständig auf der Suche nach neuen, frischen, unverbrauchten Formen“ seien, so daß die Hinwendung zum asiatischen Raum gerade auf einer nach politischen Korrelationen veränderten Weltkarte folgerichtig erscheint. Auf diesem Wege hatte allerdings schon der Kunsthandlungsreisende Jan Hoet bei der Suche nach zeitgemäßer Befriedigung des Geschmacks eine herbe Schlappe eingefahren. Der von ihm aus Afrika importierte naive Plastiker Ousmane Sow erwies sich im Licht der Documenta besehen als Flop.

Doch solche Avancen sind Pöhlmann fremd: „Wir waren relativ unglücklich, denn es war nicht in unserem Sinn, hier praktisch schnell mal wie eine Modewelle China zu entdecken, und dann kommt die nächste Region.“ Die weltweit erste Überblicks-Ausstellung „chinesischer moderner Kunst“ ist trotzdem ausschließlich von reisenden Europäern zusammengestellt worden. Bis zuletzt hatte man von offizieller Seite aus China Proteste geäußert, da diese Künstler nicht repräsentativ für China seien.

Die Geschichte aber schreibt sich aus westlicher Sicht ganz anders: Schon 1989 waren in der Pekinger Nationalgalerie etwa 300 Werke junger chinesischer Künstler gezeigt worden, zu deren Ausstellung ein Katalog erschien, der wiederum bei Pöhlmann die Idee zur eben eröffneten Show in Berlin ausgelöst hatte. Um dieser Wirklichkeit heutiger Kunstvermittlung Rechnung zu tragen, haben sich die Veranstalter mit freundlicher Unterstützung des Sponsors Marlboro dazu entschlossen, einen größeren, schöneren und umfangreicheren Katalog zu publizieren, um den Künstlern jedenfalls eine Referenz mit auf den Weg zurück nach China zu geben. Gleichzeitig erscheint eine englisch-deutsche Edition des Kunstbandes. Die Ereignisse vom Tiananmen-Platz hatten eine direkte Kontaktaufnahme 1989 zunächst unmöglich gemacht, erst 1991 konnte mit den Recherchen begonnen werden. Daß sich zwangsläufig eine völlig veränderte Kunstszene nach der gescheiterten Revolte in China hatte bilden müssen, störte die Planer nur wenig. Obwohl viele Künstler nach 1989 ins Exil gegangen waren, hatten binnen kurzer Zeit wie durch ein Schneeballsystem an die tausend Künstler von dem Projekt erfahren und Interesse angemeldet. Die Auswahl der nun 16 Teilnehmer fand in erster Linie nach akademischen Kriterien statt; und:habe man keine Exilchinesen berücksichtigen wollen, um gerade die Reaktionen der zuletzt nachgewachsenen Generation auf die politischen Veränderungen seit dem Massaker am Platz des himmlischen Friedens zu Wort kommen zu lassen. Mit der Beschränkung der Teilnehmerzahl will der Ausstellungsmacher zeigen, daß es sich um „keinen Supermarkt der Verschiedenheiten“ handelt. Jeder Künstler erhält so viel Raum, daß er seine „individuelle Handschrift“ betonen kann. „Die Szene ist unübersichtlich“, resümiert Pöhlmann den überall hervorbrechenden neuen Individualismus.

Tatsächlich zeichnet das Unternehmen „China Avantgarde“ aus, weder ethnographisch angehauchtes Exotentum im Kunstbetrieb hochzuspielen noch als Retrospektive zeitgenössischer Kultur in der VR China gelten zu wollen. Die Ausstellung gibt einer Handvoll Künstler die Chance, am Marktgeschehen teilzuhaben. Bisher hatten in der Volksrepublik allein Hotels und Botschaften als Umschlagsorte für Kunstwerke gedient, eine Galerieszene gab es praktisch nicht. Erst im vergangenen Jahr ist ein Kunstmarkt entstanden, „explosionsartig“, wie man es auch beim Zusammenbruch der Sowjetunion oder der DDR feststellen konnte. Und nach ähnlichen Regeln: chaotische Preise trotz Handelsstrukturen, die von Hongkong oder von Privatsammlern ausgehend diktiert werden. So wird die in Europa für die nächsten 12 Monate wandernde Ausstellung zwischen Rotterdam, Berlin, England und Dänemark vorrangig Aufschluß über den möglichen Marktwert chinesischer Avantgarde geben, ohne daß die Interessenten im asiatischen Raum diesen künstlich in die Höhe zu hieven vermögen. Da sind Sotheby's und Christie's vor.

Merkwürdig, wie stark sich die junge Künstlergeneration dieser merkantilen Veredelung ihrer Bilder bewußt ist. Pöhlmann dankt den Künstlern, daß sie „das einzige Kapital zur Verfügung stellen“, das sie besitzen. Was sollten sie aber auch angesichts der wirtschaftlichen Neuordnung in China damit machen? Selbst für den fernsten Osten nimmt die Sonne mittlerweile recht offensichtlich im Westen ihren Lauf. Die VR China ist im Begriff, einen bürokratischen Kapitalismus zu errichten, der insbesondere dem Mittelstand mehr Einfluß verleiht. Doch die Zeit drängt, immer mehr westliche Firmen wittern im Umbruch das Geschäft; schon wird das Stadtbild von Peking durch Reklamewände für Volkswagen und Benetton geprägt. Das Bürgertum läuft Gefahr, von der neuen Marktfreiheit überrollt zu werden, und flüchtet sich entweder in Nationalismen oder wechselt blind funktionierend die Front – zum Kapital.

Es grenzt an Schizophrenie, und viele Chinesen sind in der Tat zwischen den affirmativen Strategien der Warenwelt und einer fundamentalistischen Kehrtwende gegen Kader und Konsum hin- und hergerissen. Während sich jeder Haushalt Farbfernsehen und Video wünscht, träumt man in der Nacht von der nationalen Größe der Zeit der Tang- und Ming-Dynastien. Diesem Double-bind der späten Emanzipation sind auch die meisten Exponate von „China Avantgarde“ verpflichtet. Selbst den Katalogumschlag ziert ein Pop-Art-verwandtes Bildlogo, auf dem Mandschukrieger, kulturrevolutionäre Fäuste und Zigarettenindustrie sich mühelos vereinen. Wang Guangyi hat eine ganze Reihe solcher Schizo-Collagen zur Ausstellung beigesteuert, Propagandaplakate als Grundlage für die gewandelte corporate identity vom Staat zum Maxwell-Kaffee- Konzern. Unter dem Eindruck dieser Versöhnung von bislang Unversöhnlichem sind auch die drei programmatischen Tafeln zum Thema „Die große Welt“ entstanden. Frei nach dem Bilderfluß rund um die Welt stehen Images aus dem Fernsehen nebeneinander: „Die notwendige Ratifizierung“, „Die notwendige Gewalt“ und „Die notwendige Übereinkunft“ deuten nicht bloß auf eine tiefe Apathie gegenüber der Unausweichlichkeit politischer Sachzwänge, sie verbleiben als Serie im Muster der Wiederholung gehaltlos. Wang Guangyi sieht zwischen Kunst und Medien keinen Unterschied: beide wollen ihre Zuschauer einerseits manipulieren, andererseits über die Welt informieren, beide sind in ihrer Indifferenz Allegorien für ein Leben im China nach den Ereignissen vom Tiananmen-Platz. Zhang Peili nutzt das Zusammenspiel von Bildschirm und Leinwand, um China von einem ähnlichen Nullpunkt der Kommunikation aus zu beschreiben. „Die Standardaussprache von 1989“ ist ein Triptychon zu einer Videoinstallation, für die Zhang die bekannteste Sprecherin des chinesischen Fernsehens in ständiger Wiederholung zehn Minuten lang aus einem chinesischen Wörterbuch hatte vorlesen lassen. Am anderen Ende des Raums ist eine weitere Videoarbeit aufgebaut, die den Künstler in noch tieferem Stumpfsinn versunken zeigt. Unentwegt klebt er äußerst behutsam mit vorsichtigen Handgriffen einen zerbrochenen Spiegel zusammen, den er am Ende der Prozedur wieder fallen läßt. Wir sollen uns Sisyphus nicht als glücklichen Menschen vorstellen, sondern als Symbol einer unlösbaren Reflexionsnot, die den Künstler zwischen Ausdruck und Gehalt im dunkeln tappen läßt. Statt seines Gesichts spiegeln sich immer nur die reparierenden Hände in den mühsam sich zueinanderfügenden Scherben.

Der Pessimismus mag beiden künstlerischen Positionen gleichsam innewohnen, formal liegen sie jedoch weit auseinander. Die Formalismus-Debatte ließe sich in der VR China mühelos regionalistisch führen. Der Norden hatte von jeher zur realistischen Malerei tendiert, während im Süden Konzept- Kunst und die theoretische Auseinandersetzung mit Schriftzeichen eine übergeordnete Rolle für das künstlerische Selbstverständnis spielten. Die Gründe dafür sind offensichtlich. In der Regierungsstadt Peking galt die Direktive von der eindeutigen Verständlichkeit der Kunst als dankbares Mittel der Zensur, während im Süden über Hongkong westliche Einflüsse zuerst in den Underground und während der achtziger Jahre selbst zu den Akademien durchsickerten.

Amerikanische Kunstzeitschriften wurden von ausländischen Studenten eingeführt, übersetzt und als Raubkopien gehandelt. Schon 1986 fanden in Xiamen erste Neo- Dada-Manifestationen statt, zu deren Abschluß man alle im Verlauf der Aktion entstandenen Kunstwerke verbrannte. Als die Informationen den Norden erreichten, ging man dort direkt von der maoistischen Kunst des revolutionären Realismus zu einer Beschäftigung mit Baselitz, Lüpertz, Penck und Immendorf über.

Es scheint, als würden zwar die Stile wechseln, während im Grunde einzig das Motiv der verlorenen Identität alle Künstler beherrscht. Sogar der vermeintliche Gerhard-Richter-Adept Yan Pei Ming verdoppelt und übermalt auf „Zwei Köpfe“ sein eigenes Antlitz. In dieser mißlichen Konstellation wirtschaftlicher und moralischer Interessen verwundert die Wiederkehr des großen Vorsitzenden von einst nur wenig. Mao Tse-tung ist im chinesischen Kunstkontext der neunziger Jahre rehabilitiert. In zahllosen Anspielungen auf frühere Propagandakunst wird in einem beinahe melancholischen Nostalgiebestreben der frühere Parteiobere herbeigesehnt, und sei es auch nur als Ikone einer verlorenen Kontinuität. Yan Pei Ming löscht seine Gesichtszüge auf einem überdimensionalen Tafelbild negativ theologisierend als Tabula rasa aus, Yu Youhan taucht sein Konterfei in Blümchenmuster und Ornamente oder erhebt ihn ganz einfach zur Vaterfigur im fröhlichen Gespräch mit dem einfachen Bauern; und noch beim fotorealistischen Maler Zhao Bandi ist auf einem surrealen Selbstporträt das Plakat mit dem weise lächelnden Führer im Hintergrund zu finden. Mit dem Verweis auf den großen Kulturrevolutionär, der Malerei nur in stiller Eintracht mit den Volksmassen akzeptierte, wird das momentane Regime und dessen Fortschrittsgedanke radikal entwertet, ohne das Image als Geschichtsmodell erneut zu politisieren. Von Mao ist nichts anderes als das Bild eines Massenartikels erhalten geblieben. So ähnlich hatte auch Andy Warhol ihn einmal wahrgenommen.

Schon hat sich ein Name für die „neue Kulturrevolution“ gefunden: Zynischer Realismus. Ohne sich selbst dabei zu schonen, beschreiben die Maler sich selbst in ihrer Beziehung zu den noch so banalsten Dingen, die in ihrer Umgebung passieren. Fang Lijun stilisiert seine kahlköpfigen Porträts allesamt zu entindividualisierten Schemen, die in der seriellen Häufung debile Züge annehmen. Mit der Übertreibung in der Reduktion ist für ihn jedoch eine heitere Ironie verbunden: „Diese Menschen sind wie rollende Kugeln, die, wenn sie nur auf das geringste Hindernis stoßen, sofort die Richtung ändern; oder sie sind wie ruhende Kugeln, die bei der geringsten Neigung zu rollen beginnen. Menschen sind weder grausam noch gutmütig, ihr Verhalten hängt immer von den Bedingungen ab, unter denen sie handeln...“ „Diese Menschen“ ist er in der Regel selbst.

Je mehr man sich in diesem Labyrinth fast blinder Spiegel bewegt, um so schwerer wird es, den abendländischen Impetus der Bedeutungskraft auf die Kunst aus dem Osten abzubilden. Die chinesische Kunst ist wie auf den überlieferten Idyllen der alten Dynastien bedeutungslos. Zumindest sind Signifikant und Signifikat uneinholbar voneinander getrennt. Heute kommt der aus dem Daoismus überlieferten Abwesenheit des Sinns auf der Darstellungsebene die westliche Theorie zur Hilfe. Seit Mitte der achtziger Jahre beschäftigt man sich in China mit Foucault und Derrida, von denen Übersetzungen vorliegen. Das Spiel mit den Strukturen wird freudig aufgenommen, denn „der Versuch, sich aus dem Zwang sprachlicher Normen zu befreien, die Ablehnung der Metaphysik, der Ontologie, der Identität, und der Theorie, daß die Sprache im Zentrum steht, stimmen im beträchtlichen Maße mit der traditionellen chinesischen Ansicht überein, daß der wahre Gehalt der Dinge in Worten nicht faßbar ist“, schreibt der Kunstwissenschaftler Pi Daojian im Katalog.

Im äußersten Fall etwa verschwinden dann die Zeichen vollkommen hinter dem „Unaussprechbaren“, das sich nur noch über das Verhältnis der Abwesenheit mitteilt: „Worte sind da um der Gedanken willen; hat man den Gedanken, so vergißt man die Worte“, heißt es in einem Erklärungsversuch von Richard Wilhelm über den Daoismus. Bei Ni Haifeng wird diese gänzliche Immaterialität der Bedeutung zur politischen Strategie: Die von ihm in unendlich vielen Varianten im Raum notierte Zahl „Fünf“ kann sowohl höchste Tugend als Lob der Partei, aber auch „Schmutz“ oder „Scheiße“ heißen. Oder „Nichts“. Immer führen die Zeichen ins Unendliche.

Der Konflikt zwischen Verwestlichung und Tradition löst sich auf, indem er an den Westen zurückgegeben wird. Wo immer man in den Ausstellungsbeiträgen Anleihen bei Polke, Richter, Warhol, Rauschenberg, Duchamp und Cage zu erblicken meint, sollte man sich nicht allein fragen, wie die chinesischen Künstler die Repräsentanten der Westkunst gesehen haben, sondern was sie in ihnen entdeckt haben. Denn ein Denken der Repräsentation scheint angesichts der von Ost nach West sich angleichenden Wirtschafts- und (daran anknüpfend) politischen Führungssysteme nicht mehr zur Klärung der individuellen Differenzen auszureichen. Huang Yongping hat diese Erfahrung bereits in einer Arbeit des vergangenen Jahres hinter sich gebracht. Bücher werfend — östliche und westliche Philosophie — hat er versucht, die notwendige Verbindung herzustellen. Im Haus der Kulturen der Welt hat er Zeitungen aus allen Teilen der Welt zusammengekocht und aus der schlammigen Masse riesenhafte Bienenkörbe geformt: Metaphern einer wiederzuerlangenden Einheit aus dem sonst so gleichgültig verflochtenen Informationsnetz beider Hemisphären.

„China Avantgarde“, bis 2.5. im Haus der Kulturen der Welt in der Berliner Kongreßhalle, John-Foster-Dulles-Allee, Tiergarten. Katalog DM 44