Das Grundgesetz in der Handtasche

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Die letzte Liberale im Kabinett?  ■ Von Hans-Martin Tillack

Das wichtigste Utensil der Ministerin mißt sieben mal fünf Zentimeter und ist für 3,50 Mark in einschlägigen Bonner Buchhandlungen zu erwerben. Das Grundgesetz im Spielzeugformat ist am Regierungssitz zum Schleuderpreis zu haben und Sabine Leutheusser- Schnarrenberger trägt ihr Exemplar stets mit sich herum. Um das zu beweisen, eilt sie eigens zum Schreibtisch und klaubt die Pocketverfassung aus der dickbauchigen Handtasche.

Das kleine Buch sieht abgenutzt aus, der Einband ist abgegriffen und rissig. Sie braucht es häufig, egal ob in Bonn oder bei Veranstaltungen im Land.

Von dem früheren CSU-Innenminister Hermann Höcherl ist der Ausspruch überliefert, er könne nicht ständig mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumlaufen. Die Justizministerin unserer Tage kann sich solche Verfassungsvergessenheit nicht erlauben. Egal, ob es um die Asylpolitik geht, die Kriminalitätsbekämpfung oder Einsätze der Bundeswehr: stets steht die Verfassung im Mittelpunkt, vor allem aber der Wunsch vieler Politiker von Union, FDP und SPD, einige Artikel möglichst umgehend zu ändern.

Der Justizministerin geht das etwas zu schnell. Grundrechte sollte man so wenig antasten wie möglich, das hat sie in ihrer jetzt neunmonatigen Amtszeit häufig genug laut gesagt. Und „eigentlich“, so sagt sie, möchte sie nur einmal gezwungen sein, sich eine Neuauflage ihrer Taschenverfassung zu kaufen: Dann, wenn der neue Asylartikel und eine Regelung für Bundeswehreinsätze beschlossen sind und die Verfassungskommission von Bund und Ländern ihre Arbeit abgeschlossen hat.

Sie ist beileibe keine kompromißlose Verteidigerin von Grundrechten. Wäre sie das, wäre sie nicht Ministerin in Bonn. An der Asylrechtsänderung arbeitete sie, wenn auch manchmal zähneknirschend, mit. Vor übertriebenen Hoffnungen hat sie jedoch stets gewarnt. Es sei ein Irrglaube, allein mit diesem Mittel die Einwanderungsfragen lösen zu können. Gegen den Rechtsradikalismus, so die Ministerin erst unlängst wieder im Bundestag, könne der Asylkompromiß schon gar nichts ausrichten.

Den Lauschangriff auf das private Schlafzimmer möchte Leutheusser-Schnarrenberger im Gegensatz zur Union und zur Parteiführung der SPD überhaupt nicht, das betont sie immer wieder. Der bayerische Innenminister Edmund Stoiber (CSU) hatte deshalb schon im Juli letzten Jahres, nach ihren ersten 100 Tagen im Amt, seine Einstufung der Jungministerin bereit: „Ein Sicherheitsrisiko“. Über diese kraftvollen Worte konnte sich Leutheusser-Schnarrenberger unbefangen freuen, werden doch in der FDP derartige Attacken aus München immer noch als Gütesiegel für besondere Liberalität begriffen.

Allerdings sind auch innerhalb der Bonner FDP die Meinungen über Leutheusser-Schnarrenberger durchaus geteilt. Die Lieblingsministerin des stets um Ausgleich mit der Union bemühten Fraktionschef Hermann Otto Solms ist sie nicht. Und auch die rechtslastigen Rechtspolitiker der Fraktion um Detlef Kleinert betrachteten das forsche Auftreten ihrer Ministerin schon mal als unangenehme „Überraschung“. Die Verlängerung der von Leutheusser-Schnarrenberger befehdeteten Kronzeugenregelung setzten sie auch gegen ihren Willen durch.

Der urliberale FDP-Innenpolitiker Burkhard Hirsch gehört hingegen zu ihren größten Fans. „Ick steh auf ihr“, schwärmt auch Hirschs linksliberaler Kombattant, der Abgeordnete Wolfgang Lüder. Daß die Frau grundliberal sei, das habe er immer schon gewußt. „Positiv überrascht“ hat ihn, wie durchsetzungsfähig die Ministerin sei – läßt man solche Pannen wie die Kronzeugenregelung mal beiseite. Das Bild wäre jedoch unvollständig, würde man nicht erwähnen, daß Leutheusser-Schnarrenberger selbst durchaus Differenzen zu Leuten wie Hirsch und Lüder sieht. Nicht nur in der Asylpolitik, sondern auch im Streit um Bundeswehreinsätze war die Ministerin kompromißbereiter. Den von der SPD als „Provokation“ befehdeten und von Lüder und Hirsch kritisierten Koalitionskompromiß über künftige Bundeswehreinsätze verteidigte sie als „vertretbar“.

Wenn Leutheusser-Schnarrenberger einem trotzdem manchmal vorkommt, als sei sie die letzte Bonner Liberale, dann liegt das zweifellos an dem Gruppenbild, das die Dame umrahmt. Neben dem Kanzlerfreund Kinkel, dem wendigen Solms und dem windigen Parteichef Lambsdorff muß sie wie ein Ausbund an Prinzipientreue und Tapferkeit erscheinen. Und was sie auf alle Fälle von allen unterscheidet: Sie ist eine Frau, in der deutschen Geschichte die erste Ministerin in einem klassischen Ressort. Leider sei davon nicht viel zu merken, meine manche Frauen, auch in der eigenen Partei.

Das will die Gescholtene allerdings nicht auf sich sitzen lassen. Sie verweist auf ihren Einsatz für einen neuen Passus im Grundgesetz, der die Gleichberechtigung der Frau zum Staatsziel macht. Oder auf ihre Gesetzesentwürfe zur Bekämpfung von Kindesmißbrauch und für eine Reform des Kindschaftsrechts, etwa eine Gleichstellung unehelicher mit ehelichen Kindern.

Ausgesprochen feministisch klingen diese Bemühungen nicht, aber das scheint auch nicht ihr Bestreben zu sein. In vielen Fragen, egal ob Asyl oder Bundeswehr, gehe es nicht darum, ob eine Frau oder ein Mann die Politik mache, sagt sie, „sondern das muß man kompetent und sachlich machen“. Als einzige Frau von einer 16köpfigen Männerrunde umgeben zu sein, wie während der Bonner Asylverhandlungen mit der SPD, damit hat sie keine Probleme. Das sei doch „ganz normal“.

„Normal“, das ist so ein Lieblingswort. Total normal – das möchte Leutheusser-Schnarrenberger vor allem sein. Immerhin füllte sie bis vor gut zwei Jahren das durchaus unauffällige Amt einer Abteilungsleiterin beim Deutschen Patentamt in München aus. Mehr durch Zufall rutschte sie in den Bundestag – weil die Grünen herausgerutscht waren. Und nur, weil die FDP-Führung der CDU einen Justizminister Burkhard Hirsch nicht zumuten wollte, schlug im letzten April die große Stunde dieser „Frau Dingsbums“, wie sie der Spiegel prompt verunglimpfte.

Statt dieses Spottnamens hat sich der Spitzname „Schnarri“ durchgesetzt. Ihre Impulsivität und ihre wenig perfekte, kurzatmige Redetechnik, haben ihr noch nicht geschadet. Daß sie nicht so harmlos ist, wie manche glaubten, hat sie bewiesen. Daß es gleichzeitig ein wertvolles Kapital ist, wenn einen die Zeitungen als „nett und unverbraucht“ beschreiben, ist ihr nicht entgangen. Sie selbst erwähnt es als eigenen Pluspunkt, daß sie „in normaler Sprache“ rede, läßt in den Boulevardzeitungen „Würstchen mit Kartoffelsalat“ als ihr „Lieblingsessen“ und Chris de Burgh als „Lieblingssänger“ nennen. Nur der pressewirksame Wunsch, den Mercedes 420 S durch einen VW Golf Diesel als Dienstwagen zu ersetzen, scheiterte an der Bonner Realität: Es gibt nun mal keine gepanzerten Golfs.

Normalität vorzuführen, das hat in Bonn seine engen Grenzen. Daß Leutheusser-Schnarrenberger noch keine stinknormale FDP-Ministerin geworden ist, liegt vielleicht auch daran, daß die Zeiten nicht ganz normal sind. Keiner sonst in ihrer Partei und im Bonner Kabinett findet so glaubhaft deutliche Worte gegen den Rechtsradikalismus wie sie. Im Gegensatz zu Kinkel verzichtet sie dabei auf den verräterischen Hinweis auf das Deutschlandbild im Ausland und im Gegensatz zu Lambsdorff hat sie auch selten vergessen, die rechtsnationalen Tendenzen in der eigenen Partei anzuprangern. Einladungen für den FPÖ-Chef Jörg Haider hat sie stets als „Trauerspiel“ bezeichnet. Wie Haider mit seinem Volksbegehren auf „perfide Weise“ Stimmung gegen Ausländer macht, das findet sie „unsäglich“.

Einen Rechtsruck ihrer Partei, wie ihn manche durchaus erwägen, hält sie für aberwitzig. „Gerade jetzt muß die FDP sich auf ihre Grundsätze besinnen und sich Rechtstendenzen entgegenstellen“, warnt sie. Zumal der FDP angesichts des ungewissen Ausgangs der nächsten Wahlen und des Gespenstes der Großen Koalition die Rolle der Mehrheitsbeschafferin als Existenzberechtigung nicht ausreichen dürfte.

Über die Zukunftschancen der FDP macht sich die Ministerin, die bei ihrem Amtsantritt von manchen als „politisch unerfahren“ abqualifiziert wurde, viele Gedanken. „Es leuchtet unseren Wählern nicht mehr ein“, hatte sie schon auf dem Bremer Parteitag im Oktober erklärt, „wenn wir in Bonn verkünden, daß die FDP bereit und in der Lage sei, sowohl das eine wie auch das konträre andere gleichermaßen mitzutragen.“

Ob sich soviel liberale Tapferkeit in der Koalition mit der Union auch durchsetzen läßt, ist eine offene Frage. Nicht nur in der FDP wächst angesichts der nächsten Wahlen die Nervosität, sondern auch in der Union. Viele in Bonn erwarten, daß CDU und CSU nach der Schlacht um das Asylrecht beim Thema innere Sicherheit die nächste Front eröffnen. Auf die Frage, ob die FDP in punkto Lauschangriff wird hart bleiben können, antwortet die Justizministerin verhalten und verweist auf die wachsende Unterstützung für ihre Position in der FDP, bis hin zum designierten Parteichef Kinkel.

Noch will sich die Ministerin nicht in die Defensive drängen lassen und Reformen nicht zu den Akten zu legen. Die Forderung nach einem Einwanderungsgesetz und der doppelten Staatsbürgerschaft für in Deutschland lebende Ausländer müsse man „in der Diskussion halten“, sagt sie. Da werde sie „weiterbohren“, auch wenn bei CDU und CSU eine grundsätzliche Reform noch nicht durchsetzbar sei: „Man kann natürlich nicht die Riesenberge versetzen. Man muß Schritt für Schritt gehen und das, meine ich, tue ich auch stetig“.

Keine Volksabstimmung, wohl aber die Möglichkeit einer Volksinitiative sollte die Verfassungskommission in das Grundgesetz aufnehmen, fordert sie.

Die Forderung wird vermutlich vergeblich verhallen, genauso wie ihr Wunsch, wenigstens einmal das Volk zur Abstimmung zu bitten: dann, wenn die Verfassungskommission ihre Überarbeitung des Grundgesetzes beendet hat. Da es sich um mehrere Änderungen handeln wird und da damit auch die verfassungsrechtlichen Konsequenzen aus der deutschen Einheit gezogen seien, wäre es „richtig“, dieses eine Mal das Volk zu beteiligen. So wird es wohl nicht kommen. Aber was wäre, wenn? Dann hätten die meisten Bürger auch so ein kleines Grundgesetz in der Tasche.