Anomalie im Atompark

In den Deckeln der Druckgefäße französischer AKWs sind Risse entstanden/ Zwölf Reaktoren wiesen bei Kontrollen Schäden auf  ■ Aus Paris Bettina Kaps

Schlechte Nachricht für den französischen Strommonopolisten Électricité de France (EDF): Nach Kontrolluntersuchungen an 17 Atomkraftwerken steht fest, daß zwölf der Reaktoren Schäden aufweisen. Die Experten entdeckten in allen Meilern Risse in den Deckeln der Reaktordruckgefäße. Die Direktion für die Sicherheit der nuklearen Einrichtungen (DSIN), eine Behörde des Industrieministeriums, bewertete die Mängel mit der Note zwei auf der sechsstufigen Skala für Zwischenfälle in Atomkraftwerken. „Die Anomalie betrifft potentiell alle Reaktoren des nuklearen Parks“, heißt es im Bericht der DSIN. Die EDF betreibt in Frankreich insgesamt 56 Kernkraftwerke.

Den ersten Alarm löste im September 1991 die Routinekontrolle des AKWs Bugey (Region Rhône- Alpes) aus: Beim Hochdrucktest des Primärkreislaufs im Block 3 trat ein Liter Wasser pro Stunde aus dem Deckel des Reaktordruckgefäßes aus. Weitere Untersuchungen des zehn Jahre alten Reaktors ergaben, daß eines der 65 Metallrohre, durch welche die Steuerstäbe laufen, zahlreiche Risse von zehn Zentimetern Länge aufwies.

Die Sicherheitsbehörde forderte EDF daraufhin auf, einen Plan zur Kontrolle der Druckgefäßdeckel aller übrigen Atomkraftwerke vorzulegen. Zunächst wurde die erste Generation von 900-Megawatt-Reaktoren (in Bugey und Fessenheim) untersucht, die alle die gleichen Schäden aufweisen; im Reaktor Bugey-4 waren sogar acht Metallröhren beschädigt. Doch auch die beiden anderen Reaktortypen – Blöcke mit 1.300 Megawatt (in denen die Temperaturen niedriger sind) und die zweite Generation der 900-Megawatt-Reaktoren – sind betroffen. „Die Schäden wurden frühzeitig entdeckt, bislang ist nirgends bei Betrieb radioaktives Wasser ausgetreten“, beteuert Michele Benabes von der DSIN. Sollte dieser Fall dennoch auftreten, so der Bericht, dann könnte der Reaktor immer noch abgeschaltet und repariert werden, ohne daß die Sicherheit der Einrichtung oder gar die Umwelt gefährdet seien.

Die Materialuntersuchungen ergaben, daß vermutlich eine Legierung aus Eisen, Chrom und einem hohen Anteil an Nickel – das sogenannte Inconel 600 – unter Druck der Korrosion unterliegt; diese Legierung darf beim Bau neuer Atomkraftwerke nicht mehr benutzt werden. Laut EDF haben Schweden und die Schweiz ihre Kraftwerke auf solche Risse untersucht und die gleichen Mängel entdeckt; Japan werde in Kürze mit Untersuchungen beginnen, die USA planten dasselbe für 1994. In all diesen Ländern wurde Inconel 600 verwandt, in deutschen AKWs soll die anfällige Legierung nur in den ältesten Reaktoren eingesetzt worden sein.

Die DSIN geht davon aus, daß die EDF in den kommenden zwei Jahren den gesamten Park kontrolliert haben dürfte – eine Frist wurde dem AKW-Betreiber nicht gesetzt. Der EDF-Generaldirektor für nukleare Sicherheit, Pierre Yves Tanguy, erklärte vor Journalisten, seine Firma habe bereits ein Dutzend neuer Deckel bestellt. Die schadhaften Deckel sollen jedoch nur dann ausgetauscht werden, wenn die Risse bedenklich werden. Um billiger wegzukommen, forscht EDF zugleich nach einer Reparaturmethode. „Die Frage lautet, unter welchen vom Sicherheitsstandpunkt aus akzeptablen Bedingungen wir jetzt einen Block mit rissigen Leitungen vorübergehend arbeiten lassen können, bevor der Deckel repariert oder ersetzt wird“, sagte Tanguy.

Bislang wurde einzig das beschädigte Rohr in Bugey-3 erneuert. Drei andere Reaktoren, die kleinere Risse aufweisen, sind ohne Reparatur wieder in Betrieb genommen worden – schließlich bedeutet jeder Tag, an dem ein AKW abgeschaltet ist, Verluste von ein bis drei Millionen Francs. Andernorts wurden nur die stark beschädigten Rohre provisorisch repariert. Neue Detektoren an den Schadstellen sollen das Austreten von radioaktivem Wasser melden.

Mit seinen 56 Reaktoren besitzt Frankreich die Hälfte der westeuropäischen Atomkapazität; unter dem Motto „Alles elektrisch“ konnte die EDF durchsetzen, daß 70 Prozent des nationalen Strombedarfs aus AKWs kommen. Unterdessen träumt der Monopolist bereits von der neuen AKW-Generation: Nach der Jahrtausendwende, wenn der jetzige Park veraltet sein wird, soll in neue Reaktoren investiert werden. Zuvor will EDF vor allem einen Teil des Schuldenbergs von knapp 200 Milliarden Francs (60 Milliarden Mark) zurückzahlen, der beim Bau der 56 derzeitigen KKWs angehäuft wurde. Da kommen die Risse nicht gerade gelegen.