„Die obere Kurve ist optimistisch, die untere auch“

■ Tschechische und slowakische Atomwirtschaftler zu Gast bei der Siemens AG

Ohu (taz) – Mit einer Stunde Verspätung trifft der klapprige Bus ein. Keine Panne auf der Strecke zwischen Prag und Ohu, nein, die Gäste aus den Nachbarländern haben einen Umweg über Regensburg gemacht. Dort war das Nachtquartier billiger als im nahen Landshut. Passender hätte das erste Treffen der tschechischen und slowakischen kerntechnischen Gesellschaften auf deutschem Boden kaum beginnen können. Die armen Vettern kamen, die deutsche Siemens AG hatte zur NUSIM '93 im Infozentrum der Atomkraftwerke Ohu geladen.

Optimisten lassen sich durch nichts beirren. Einen Überblick über die nuklearen Erfahrungen im Osten sollen wir erhalten. Jiri Suchomel vom nuklearen Forschungszentrum VUJE in Trnava (Slowakei) berichtet von den vier sowjetischen Reaktoren der Typen WWER 440/230 und 440/213 in Bohunice (dieselben stehen in Greifswald), von vier ebensolchen in Dukovany, von vier weiteren, die in Mochovce im Bau sind und von den beiden doppelt so großen WWER 1000, an denen in Temelin betoniert wird. Was er vergißt, ist die Anlage A1 in Bohunice. Der tschechische Reaktor, der nach 16jähriger Bauzeit 1972 in Betrieb ging, mußte nach einer schweren „Havarie“ 1977 endgültig stillgelegt werden.

Folgen lange Tabellen mit sicherheitsrelevanten Ereignissen, an die 200 pro Jahr für die acht Atomkraftwerke. Dann die Liste mit 25 Störfällen, die der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) in Wien gemeldet wurden – woraus Suchomel schließt: „The operation has been safe and reliable!“

Auch Karel Bodorik ist Optimist. Der stellvertretende Direktor des slowakischen Energieversorgers SEP macht sich Gedanken über den künftigen Strombedarf. Er zeigt Kurven, die ab 1992 steil nach oben gehen, obwohl sie doch zwischen 1990 und 1992 deutlich abgefallen waren. Eine deutsche Teilnehmerin fühlt sich stark an heimische Prognosen erinnert und fragt nach dem Grund für den Knick in der Grafik. „Die obere Kurve ist optimistisch – und die untere auch“, antwortet Bodorik, noch heuer müsse deshalb die Entscheidung über 1.000 Megawatt zusätzlicher Leistung aus Atomkraftwerken fallen.

Von technischen Schwierigkeiten will der Mann aus dem Stromkonzern nichts wissen. Für ihn gibt es nur „drei ernste Probleme“ – nämlich „Geld, Geld und nochmals Geld“. Daran könnten auch die Träume von Siemens scheitern. Im vergangenen Sommer hatte Deutschlands größter Brennelementehersteller die Zusammenarbeit mit der französischen Framatome und Cogéma vereinbart. Gemeinsam will man den osteuropäischen Markt für WWER- Brennstoff erobern. Stolz präsentiert der Siemens-Mann die technischen Details des neuen „Trigon“- Konzepts für die WWER-Reaktoren sowjetischer Bauart. Nur auf die entscheidende Frage der tschechischen und slowakischen Kernenergetiker bleibt Wolfgang Klinger die Antwort schuldig – was die Brennstäbe denn so kosten?

Mikulas Turner von SEP hatte zuvor schon Schwierigkeiten eingeräumt. Der bisherige Monopolist für Uran-Brennelemente – plutoniumhaltige MOX-Brennelemente werden in ganz Osteuropa nicht eingesetzt –, die tschechische Tenex, liefere seit drei Jahren nur noch gegen „hard currency“.

Der Mangel an harter Währung ist nicht nur an der verspäteten Anreise, er ist auch verantwortlich für sich abzeichnende Verzögerungen beim ehrgeizigsten deutsch-slowakischen Projekt, eben jenen vier WWER 440/213-Blöcken in Mochovce: In einem Dreiecksgeschäft sollen die sowjetischen Reaktoren unter anderem mit Siemens-Leittechnik ausgerüstet werden. Die Kosten für die Nachrüstung allein der ersten beiden Blöcke betragen 1,1 Milliarden Mark. Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) soll einen Kredit gewähren, rückzahlbar in Stromlieferungen an ein Konsortium aus Bayernwerk, PreussenElektra und Électricité de France (EDF). Doch der schon mehrmals angekündigte Deal ist noch nicht zustande gekommen. Die EBRD verlangt offenbar ein stärkeres Engagement der westlichen Stromversorger, womöglich eine direkte Beteiligung oder die Betriebsführung des Atomkraftwerks. Doch vor einer solchen Identifizierung mit Reaktoren vom Greifswald-Typ scheinen Bayernwerk und Konsorten denn doch zurückzuschrecken.

Der Zeitpunkt für den Abschluß der Verträge sei jedenfalls, so Dieter Brosche vom Bayernwerk, „momentan unklar“. Auch der Vertreter eines Schweizer Nuklear-Versicherungspools ist skeptisch. Da müsse wohl noch viel gemacht werden. Nach drei Tagen Konferenz kam auch in Ohu das dicke Ende: die Entsorgung. Mária Vandliková (SEP) und Rudolf Vespalec (AKW Dukovany) berichten von ihren Nöten, nachdem die „sowjetische Lösung“ so plötzlich ausgefallen ist. Gegenwärtig werden die abgebrannten Brennelemente nach dreijähriger Abkühlung in reaktoreigenen Becken ins externe (Naß-)Zwischenlager auf dem Gelände des Atomkraftwerks Bohunice gebracht. „Das ist jedoch 1997 voll“, stellt Frau Vandlikova fest. Dazu komme, daß nach der Teilung der ČSFR der Atommüll aus dem tschechischen Dukovany nicht mehr ohne weiteres im slowakischen Bohunice gelagert werden könne.

In Dukovany soll deshalb ein von Nukem und GNS gebautes (Trocken-)Zwischenlager entstehen. In einer Billigversion der deutschen „Castor“-Behälter werden die WWER-Brennelemente vor sich hin strahlen, bis ein Endlager gefunden ist. Vespalec legt Wert darauf, daß es dafür „eine breite öffentliche Akzeptanz“ gebe. Von 120 Gemeinden seien 119 dafür. Gefragt, wer dagegen sei, gibt er zu: „Dukovany“. Und was das Endlager angeht, so lassen sich Tschechen und Slowaken Zeit: 2030 soll die Einlagerung beginnen, neun Standorte werden dafür untersucht.

Bleibt nachzutragen, daß für die 132 beschädigten Brennelemente jenes vergessenen Blocks A1, die seit 15 Jahren in Bohunice liegen, jede Lösung fehlt. Die nächste Tagung – die NUSIM '94 – wird in Piestany (Slowakei) stattfinden – einem schönen Kurort zwischen den Atomkraftwerken Bohunice und Mochovce, wie die Veranstalter versichern. Karl Amannsberger