Hausverbot für eine gehörlose Mitarbeiterin

■ An der Samuel-Heinike-Schule für Gehörlose ist ein Streit um die Gebärdensprache entbrannt / Schulbehörde soll Flagge zeigen

entbrannt / Schulbehörde soll Flagge zeigen

Vor der Samuel-Heinike-Schule in Wandsbek bot sich gestern mittag ein ungewöhnliches Bild: Ein Gehörloser steht auf der Mauer, berichtet vom Gespräch mit dem Schulleiter. Nicht mit Worten, mit Gebärden. Eine Dolmetscherin übersetzt: „Wir wollen nicht eher gehen, bevor Herr Männich erklärt hat, warum Frau Schwarz nicht mehr in die Klasse darf.“ Alle winken mit der rechten Hand: das Zeichen für Applaus.

Aussperrung aus dem Unterricht, eine ungewöhnliche Maßnahme in einem pädagogischen Methodenstreit. Seit 120 Jahren versucht man Gehörlosen die deutsche Lautsprache beizubringen — von den Lippen ablesen, mühsam Töne artikulieren. Doch daß dies der falsche Weg ist, ist unter Sprachwissenschaftlern unumstritten: in den USA, in Schweden, in Dänemark, in Frankreich und, seit es das Zentrum für Gebärdensprache (ZfG) an der Uni gibt, auch in Hamburg.

Denn während die Lautsprache für Gehörlose nur sehr mühsam und schrittweise zu erlernen ist und sie intellektuell entmündigt, gibt es eine visuelle Sprache, die die Verständigung auch auf hohem Niveau mühelos möglich macht: die Gebärdensprache, eine Kombination aus Bewegung von Gesicht, Körper und Händen mit eigener Grammatik und eigener Schrift.

Hinter dem Stichwort „Bilinguismus“ verbirgt sich nun eine Unterrichtsform, die den Kindern von Anfang an beides, die Gebärdensprache und die Lautsprache beibringen soll. So wurden die Schüler der jetzigen Klasse 1a im Rahmen eines geplanten Schulversuchs im benachbarten Kindergarten erstmals auch von gehörlosen Erzieherinnen unterrichtet. „Die Kinder haben eine explosionsartige Entwicklung durchgemacht“, erklärt Professor Siegmund Prillwitz vom ZfG. Denn während normal hörende Schulkinder über einen Wortschatz von 20000 verfügen, umfaßt der auf die Lautsprache reduzierte Unterricht gerade mal 200 Wörter. Prillwitz: Der Unterricht mit der Gebärdensprache ermögliche die Wissensvermittlung auf einem höheren Niveau.

Wo es so gut funktionierte, wollten die Eltern, daß ihre Kinder weiterhin von einer Gehörlosen Unterricht bekommen. Die ZfG- Mitarbeiterin Jutta Schwarz sollte die Gebärdensprache unterrichten und als Identifikationsfigur dienen. Zunächst durfte sie nur einmal in der Woche teilnehmen, seit letztem Donnerstag gar nicht mehr.

Hintergrund: Im Kollegium der Samuel-Heinike-Schule ist der Bilinguismus stark umstritten. Etwa die Hälfte der Pädagogen teilt die Befürchtungen von Schulleiter Georg Männich, die Einführung der Gebärdensprache mit ihrer eigenständigen Grammatik würde die Integration in die Gesellschaft behin-

1dern. Mit Hilfe der Lautsprache, so Männich, stünden Gehörlosen 160 Berufe zur Verfügung. Gebärdensprache sei dagegen nur mit Hilfe von Dolmetschern übersetzbar.

„Das ist das übliche Argument, aber wir wollen ja gerade mit beiden Sprachen arbeiten“, sagt dazu Renate Poppendieker, die als Lehrerin das Konzept für den Schulver-

1such mit entwickelt hat. Eine andere Kollegin: „Viele Lehrer haben eine ungeheure Angst, daß sie Fortbildung machen müssen.“

Schulleiter Männich begründet das Hausverbot für Jutta Schwarz rein formal. Professor Prillwitz habe in einem Brief an die Schulbehörde von ihr als „Mitarbeiterin“ gesprochen. Seines Wissens habe

1Frau Schwarz aber nur den Status einer „Hospitantin“. Jetzt sei die Schulbehörde gefordert, klare Verhältnisse zu schaffen. Auch die Eltern fordern von der Behörde, nun endlich für den bilingualen Schulversuch Flagge zu zeigen. In der Hamburger Straße brütete man gestern über dem Problem. Bis Redaktionsschluß ohne Ergebnis. kaj