: Rissige Rohre, brüchige Argumente
■ AKW Brunsbüttel: 108 Risse im Rohrsystem / Ministerium will's nicht gewußt, HEW wollen nichts verschleiert haben
: 108 Risse im Rohrsystem / Ministerium will's nicht gewußt, HEW wollen nichts verschleiert haben
Das Schwarze-Peter-Spiel hat begonnen. Nachdem am Wochenende bekannt wurde, daß das Rohrsystem des Atomkraftwerks Brunsbüttel von Rissen durchzogen ist (siehe auch Seite 5), sind jetzt die Schuldzuweisungen zwischen dem schleswig-holsteinischen Energieministerium und dem Betreiber, den Hamburgischen Electicitätswerken (HEW), in vollem Gange. „Die Informationen des Kraftwerksbetreibers waren unzureichend, wenn nicht falsch“, so der Sprecher des Energieministeriums, Ralf Stegner gestern. HEW-Retourkutsche: „Kiel hat alles gewußt.“
Obwohl bei der HEW Prüfvermerke über mehr als 60 Risse (davon mindestens vier betriebsbedingte) vorgelegen haben müßten, hätten sie „dem Bundesumweltminister noch am 14. Januar etwas anderes mitgeteilt“, erklärte Stegner. Dem widersprachen die HEW gestern auf einer eilig einberufenen Pressekonferenz. Die schleswig- holsteinischen Regierung sei von ihnen über alle Befunde unterrichtet worden, so HEW-Vorstandsmitglied Manfred Timm ab. „Keiner kann behaupten, daß der Vorgang verschleiert wurde“.
Gestern war jedoch plötzlich nicht mehr von 60 Rissen die Rede, sondern vom Verdacht auf 108. Die Risse in den Schweißnähten seien meist drei bis vier, in einem Fall sogar 16 Zentimeter lang. Bei einer Wandstärke von 7,4 Millimetern reicht ein besonders tiefer Riß 6,3 Millimeter in den Stahl. Die Schäden sind nach Timms Worten vermutlich während der Fertigstellung der Rohrleitungen vor mehr als 17 Jahren entstanden.
Aber genau das ist der strittige Punkt. Waren die Rohre schon rissig als sie eingebaut wurden, oder sind sie im Laufe des Betriebes entstanden? Zumindest bei einer der durchleuchteten Schweißnähte zeige sich jetzt ein von der ersten — und bislang letzten — Prüfung im Jahr 979 abweichendes Röntgenbild, dies mußten die Betreiber gestern zugeben. Der Reaktorbetrieb könnte hier zur Vergrößerung eines vorhandenen Risses beigetragen haben. Die herausgeschnittene Schweißnaht wird jetzt im Labor untersucht, das Ergebnis Anfang nächster Woche erwartet.
Der Clou der gestrigen Kundgebung: „Sicherheitsrelevante“ Leitungen, etwa des Reaktor-Kühlsystems wurden bislang noch gar nicht untersucht, lediglich das Reaktor-Reinigungssystem und das Lagerdruckwassersystem. Der HEW- Vorstand konnte daher auch nicht ausschließen, daß sich auch in Kühlrohren, die aus dem gleichen Stahl hergestellt sind, Risse befinden — hält aber dennoch zuversichtlich ein Versagen der Kühlung des Reaktorkerns und damit eine Katastrophe vom Ausmaß Tschernobyls für „absolut unmöglich“. Vera Stadie
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