■ Warum erlag Václav Havel den Verführungen der Macht?
: Seine Tragödie

Von den vielen Bildern Václav Havels, mit denen Prag in den ersten Monaten nach der „sanften Revolution“ ausgeschmückt war, sind bis zum heutigen Tag nur ganz wenige geblieben. Eines davon hängt immer noch in dem großen Schaufenster in der ersten Etage des Volkskunstgeschäftes „Krásná jizba“ in der Nationalstraße. Nicht mehr lange. Das Haus, der Sitz des Verlags Odeon, soll(te) im Rahmen eines Privatisierungsprojektes die Frau des früheren Kultusministers, heute Parlamentspräsidenten, Milan Uhde gekauft haben. „Krásná jizba“ steht bereits eine Kündigung ins Haus. Wenn auch die langsam aufkommende Affäre um die Buchgroßhandelsgeschäfte der Ministergattin den Lauf der Dinge in diesem Fall etwas verlangsamen könnte, an der generellen Demontage der Symbolfigur der Opposition gegen das realsozialistische Husák-Regime wird sich dadurch nichts ändern.

Paradoxerweise hat sie mit der Wahl Václav Havels zum ersten Präsidenten der neuen Republik ihren Höhepunkt erreicht. Diese Demontage verfolgt natürlich politische Ziele. Am eifrigsten hat sie auch in den letzten Monaten die regierende Koalition betrieben. Das unwürdige Spiel von „ja“ und „vielleicht doch ja“, das sie um seine Kandidatur veranstaltete, sollte Václav Havel, wie die tschechische Presse schnell erkannte, „weichklopfen“. Ein schwacher Präsident, dessen ungebrochenes Renommee im Ausland auf dem internationalen Parkett genutzt werden kann. Das war das Ziel. Mit Hilfe von Havel selbst wurde es auch erreicht.

Der besten Tradition der ersten Tschechoslowakischen Republik, der linken Mitte verpflichtet, ist Havel der Regierungskoalition, die nur rechts oder links kennt, das erste mit der Demokratie und das zweite demagogisch mit der Totalität gleichsetzt, natürlich unbequem. Er ist das lebendige Beispiel dafür, daß diese Vereinfachung nicht stimmt. Ungewollt und unwillkürlich verbinden sich in diesem Punkt die machtpolitischen Interessen der eifrigen Verfechter der reinen Marktwirtschaft in der ODS („Demokratische Bürgerpartei“), zutreffend als „Marktleninisten“ bezeichnet, mit denen der wirtschaftlichen Nomenklatura des alten Regimes. Diese zu Kapitalisten gewordenen Karrierekommunisten sehen in der freien Marktwirtschaft die Chance, ihre Positionen von früher zu halten und weiter auszubauen. Eine funktionierende Demokratie können sie in der augenblicklichen Situation, in der es vor allem um die „primäre Akkumulation“ des Kapitals geht, nicht brauchen.

Hinzu kommt, daß Havel und Klaus sich schon von ihrem Werdegang her politisch kaum verstehen können. Havel, Jahrgang 1936, ist, wie viele seiner Generationsgenossen, noch vom Geist der ersten Republik geprägt worden, der in den Familien des Bildungsbürgertums – allen Umstürzen zum Trotz – lebendig geblieben war. Das prädestinierte sie, Zaungäste des Sozialismus zu werden. Nie gehörten sie richtig dazu. Eine Generation von Beobachtern. Sie konnten weder Kommunisten werden, die Methoden stießen sie ab, noch Antikommunisten, die Utopie, soweit in ihr das humanistische Erbe der europäischen Kultur mitklang, zog sie zu sehr an. Sie hätten gerne Avantgarde gespielt, „auserkoren“ wurden sie dazu, in den fünfziger Jahren Schritt und Mund zu halten. In den Schulen hatten als junge Lehrer oder ältere Mitschüler die späteren Reformkommunisten das Sagen.

Zaungast Havel versus Mitmischer Klaus

Für den nur fünf Jahre jüngeren Václav Klaus war dagegen der Sozialismus von Anfang an die Realität des Lebens. Die Überzeugung wurde längst zur Routine. Eine Alternative gab es nicht; bis zu dem Augenblick, als Václav Klaus für sich die Marktwirtschaft entdeckte. Diese ist für ihn zur neuen Heilslehre geworden. Sein etwas zu flaches Denken und auf die Ökonomie reduziertes Weltbild weisen ihn allerdings als Produkt einer sozialistischen Brutstätte aus. Dem Pragmatiker Klaus muß der ständig nach Höherem strebende Havel schlicht auf die Nerven gehen. Andererseits mißt er sich auch an ihm. Der Satz, daß niemand im Lande so viele Essays geschrieben hat, wie er, Václav Klaus, zeigt es in aller Deutlichkeit. Daß diese „Essays“ im Grunde nur Zeitungsartikel sind, ist eine andere Frage. Auch deswegen muß Havel etwas kleiner werden.

Václav Havel ist freilich kein unschuldiges Opfer dieser Demontage. Er hat an ihr, zum Leidwesen der tschechischen Öffentlichkeit, kräftig mitgewirkt. Damit sind jetzt nicht die kleinen Fauxpas bei der Amtsausübung oder der bunte Haufen seiner Berater gemeint, sondern etwas Grundlegenderes: Warum hatte er sich das unwürdige Spiel um seine Kandidatur gefallen lassen? Die Verführung der Macht? Soll dies die Tragödie des Mannes sein, der zwanzig Jahre dem totalitären Regime widerstand?

Dies war doch die Situation, auf die Kandidatur zu verzichten und in die Opposition zu gehen! Diese Geste des Verzichtes auf das Amt hätte ihm viele verlorene Sympathien wieder zurückgebracht. Und es war die Chance, die leere Mitte der tschechischen Politszene mit einer glaubwürdigen Opposition zu füllen. Hier, nicht als Präsident, hätte er der Allgemeinheit wirklich dienen können. Der Gegensatz zwischen Havel und Klaus hätte dadurch zu einer produktiven Kraft verwandelt werden können. Und auch Václav Havel selbst hätte seine eigentliche (und erprobte) Rolle als Mensch und Intellektueller gefunden: die Opposition. Es ist wahrscheinlich auch der einzige Platz in einem Staatswesen, an dem man eine „unpolitische Politik“ wirklich betreiben kann.

Havel ist Moralist, kein Ethiker

Diese vertane Chance weist auf Schwächen in Havels politischem Denken hin. Der Weg der Bürgerbewegung ins politische Abseits hatte wieder einmal gezeigt, daß eine Bürgerbewegung einen Staat nicht regieren kann. Dies hat Klaus sehr schnell begriffen und sich damit als Politiker qualifiziert. Genauso unbestritten bleibt aber auch, daß ohne eine starke Bürgerbewegung keine Demokratie auf die Dauer funktionieren kann. Dieses dynamische Zusammenspiel der gesellschaftlichen Kräfte zu verstehen, widersetzt sich Havels etwas zu starres, auf Kategorien wie Gut und Böse festgelegtes Denken. Er ist eben kein Ethiker, sondern ein Moralist.

Václav Havel war freilich nicht nur die Symbolfigur der Opposition gegen das alte Regime und der Held der sanften Revolution. Mit seiner Person wurden auch Werte und Wertorientierungen verbunden. Die Gefahr ist groß, daß mit seiner Demontage auch diese einfachen Gebote zwischenmenschlichen Zusammenlebens degradiert werden und Habsucht und Rücksichtslosigkeit zu einer neuen Norm werden. Es wäre fatal. Freilich: In der großen Popularität, der sich Havel erfreute, war auch ein Element des Abgebens des eigenen politischen Willens an jemanden, dem man vertrauen kann. Eine Aufgabe der Eigenverantwortung also.

Falls nun die Bürger der Tschechischen Republik aus der Demontage von Václav Havel den Schluß ziehen, daß jeder einzelne die Werte, die die Grundlage des menschlichen Zusammenlebens bilden, selber hegen und pflegen muß, wäre es ein Zeichen dafür, daß sich hier eine Zivilgesellschaft zu entwickeln beginnt. Alena Wagnerová

Tschechisch-deutsche Publizistin, lebt in Saarbrücken