"Die Klasse war eine geschlossene Front"

■ Der 16jährige Schüler Viktor wurde von drei Klassenkameraden stranguliert und an einem Rohr aufgehängt / Gespräch mit dem Opfer und dessen Mutter zu den Reaktionen nach dem Vorfall

In der 5. Gesamtschule in Köpenick strangulierten drei Zehntkläßler ihren 16jährigen Mitschüler Viktor Z. mit einem Seil und versuchten, ihn an einem in 2,20 Meter Höhe befindlichen Lüftungsrohr aufzuhängen. Als das Rohr unter dem Gewicht zusammenbrach, schleppten ihn seine Peiniger in den Waschraum. Dort befeuchteten sie den festgezurrten Knoten der Schlinge mit Wasser, damit dieser nicht mehr gelöst werden könne. Viktor, der schon blau angelaufen war, gelang es mit letzter Kraft, zu den Sportlehrern zu entkommen, die ihm das Seil vom Hals schnitten.

Die Tat ereignete sich am 15. Januar in einem Umkleideraum nach der Sportstunde vor den Augen von zwölf Mitschülern. Zwei der mutmaßlichen Täter, der 17jährige Sascha und der 16jährige Stefan, sitzen inzwischen wegen versuchten Totschlags in U-Haft. Der 16jährige Francis erhielt Haftverschonung. In einem Gespräch mit der taz berichten Viktor und seine Mutter, die 48jährige alleinerziehende Bibliothekarin Evelyn Z., von den Reaktionen in der Schule nach dem Vorfall. Seit dem Elternabend zwei Wochen nach der Tat steht für beide endgültig fest, daß Viktor nach den Ferien nicht an die Schule zurückkehren wird. An dem Elternabend hatte der 16jährige bewußt nicht teilgenommen.

taz: Warum haben deine Mitschüler dich als Opfer ausgesucht?

Viktor: Es werden immer die drangenommen, die sich nicht wehren können.

Mutter: Nach Meinung der Schüler war es Zufall.

Es muß doch eine Vorgeschichte gegeben haben.

Viktor: Für mich kam das aus heiterem Himmel. Am Tag vorher hatten Francis und Stefan einem anderen Mitschüler und mir in einem Nebenraum der Turnhalle aus Spaß schon mal ein Springseil mit einer Schlinge umgehängt. Aber nicht so, daß man keine Luft mehr kriegt. Sascha war zufällig nicht da. Am nächsten Tag bin ich von der Turnstunde schon eher nach oben zum Umziehen geflitzt, weil Francis und Stefan angekündigt hatten, daß ich wieder drankommen soll. Ich wollte nicht, denn das hat mir nicht so dollen Spaß gemacht. Im Umkleideraum ist es dann passiert.

Bist du anders als deine Klassenkameraden?

Mutter: Mein Sohn liebt keine großen Gruppen. Er ist sehr viel für sich, macht am liebsten große Ausflüge mit seinem Fahrrad. Rabaukentum ist nicht sein Ding.

Viktor: Die Gewalt und die rechte Meinung an der Schule sind schlimm.

Mutter: Das empfindest du so, weil du es verabscheust. Beim Elterabend war man da anderer Meinung.

Viktor: Ich sehe doch immer, wie sie sich aus anderen Klassen auf dem Hof über Ausländer und so weiter äußern.

Wo stehen Sascha, Stefan, Francis und deine übrigen Klassenkameraden politisch?

Viktor: Sascha ist ein Nazi. Ich kann mir gut vorstellen, daß der sogar organisiert ist. Stefan ist immer mit Sascha zusammen. Der, Francis und einige andere sind Mitläufer. Der Rest äußert sich nicht dazu.

Und du?

Viktor: Ich mach' zu der ganzen rechten Meinung nicht groß den Mund auf, erklär' denen nur, wie das mit den Ausländern ist. Daß wir sie auch nötig haben.

Mutter: Hast du in der Klasse erzählt, daß du an der Demonstration gegen Ausländerfeindlichkeit am 8.11. teilgenommen hast?

Viktor: Das war doch allgemein bekannt. Aber das ist nicht der Grund dafür gewesen, daß sie mich aufgehängt haben.

Wie tritt Sascha auf?

Viktor: Vor Sascha haben alle Angst. Die Statur ist echt furchteinflößend. (Zeigt auf das Klassenfoto vom vorigen Jahr. Der mit Tarnhose, Bomberjacke und Doc- Martens-Schuhen bekleidete Sascha überragt alle.) So wie hier auf dem Bild läuft der immer rum. Bei der Arbeitslehre hat er mal gesagt, daß er immer voller Freude bei Krawallen dabei ist. Ich habe ihn auch schon mal im Fernsehen bei Krawallen gesehen. In Sachen Hitler weiß der alles: Größe, Geburtsdatum, Augenfarbe. Das Buch „Mein Kampf“ hat er auch gelesen.

Wie reagieren die Lehrer auf den Rechtsextremismus und die Gewalttätigkeiten?

Viktor: Ich kann mich nicht daran erinnern, daß sich einer dazu geäußert hat.

Mutter: Sie haben Angst. Als ich mich einmal darüber beschwert habe, daß Stefan Viktor ein hölzernes Dreieck über den Kopf gezogen hat, haben die Klassenlehrerin und die Mathematiklehrerin zu mir gesagt, sie wären mir furchtbar dankbar, wenn ich etwas unternehmen würde. Sie als Frauen würden sich nicht trauen, gegen die Kerle im Unterricht vorzugehen.

Viktor, kommen solche Brutalitäten öfters in deiner Klasse vor?

Viktor: So was war zum ersten Mal.

Wie haben sich die anderen Mitschüler angesichts der Tat verhalten?

Viktor: Keiner hat eingriffen. Es hat auch keiner etwas gesagt. Die meisten haben gelacht. Daß der einzelne gegen Sascha keine Chance hat, war mir klar, aber zusammen hätten sie es garantiert schaffen können.

Mutter: Beim Elternabend haben einige Schüler gesagt, sie hätten das Ganze zunächst als Spaß angesehen. Zwei haben auch gesagt, sie hätten aus Angst, womöglich die Nächsten zu sein, nicht eingegriffen.

Nach einwöchiger Unterbrechung bist du noch einmal für zwei Tage zur Schule gegangen. Was war da los?

Viktor: Die ganze Klasse war total aggressiv. Alle hatten den Bericht in der „Bild“ gelesen. Sie haben behauptet, das würde alles gar nicht stimmen. Ich hätte gar nicht in der Luft gehangen.

Mutter: Er stand einer geschlossenen Front gegenüber. Auf dem Elternabend haben sich die Schüler darüber beschwert, sie müßten jetzt Angst haben, wegen der Vorladung zur Polizei keine Lehrstelle zu bekommen. Ein Vater hat sich dabei ganz besonders hervorgetan, indem er behauptete, Viktor fühle sich jetzt als großer Zeitungsstar und gefährde damit die Lehrstelle seines Sohnes. Außerdem wurde uns vorgeworfen, wir hätten die Presse informiert und uns an den Artikeln reich verdient. Ich habe gesagt, das ist alles Quatsch.

Viktor: Mir hat in der Schule auch keiner geglaubt, daß ich dafür nichts kriege. Statt dessen sagte einer: „Ey, du kannst uns allen die Klassenfahrt bezahlen...“

Wie haben die Lehrer bei deiner Rückkehr reagiert?

Viktor: Weil unsere Klassenlehrerin nicht da war, kam die Rektorin. Die ersten 20 Minuten haben wir über die Berichte in den Zeitungen geredet. Soweit ich weiß, hat sie den anderen Lehrern untersagt, daß jemand über das Thema redet.

Mutter: Er war an den zwei Schultagen noch nicht in der Lage, zu diskutieren, und hat nur gemerkt, alle sind gegen ihn. Die Feindseligkeit hat er bestimmt stärker empfunden, als sie war.

Hat sich von deiner Klasse jemand erkundigt, wie es dir geht, nachdem sie dich in Todesängste versetzt haben?

Viktor: Einer war hier und hat sich entschuldigt. (Schweigt einen Moment.) Jemand anderes hätte eine Minute ohne Luft überhaupt nicht ausgehalten, der wäre schon längst umgekippt.

Mutter: Es arbeitet sehr in ihm. Ich habe ihn ein paarmal nachts schreien hören.

Viktor: Ich habe nicht geschrien. Das hast du geträumt.

Mutter: Nein. Ich war auch in deinem Zimmer und habe dich wieder zugedeckt. Deshalb bin ich auch ganz froh, daß er öfter darüber reden kann und das nicht in sich reinwürgt.

Frau Z., wie haben Sie davon erfahren?

Mutter: Nachmittags um halb fünf von einer Funkstreife. Die Beamten hatten das Ganze zufällig in dem Krankenhaus mitbekommen, in dem Viktor behandelt wurde.

Die Schule hat Sie nicht informiert?

Mutter: Es hat sich keiner bei mir gerührt, obwohl man dort noch nicht mal wußte, daß ich von der Polizei benachrichtigt worden war. Wir saßen an dem Abend ganz allein hier. Mein Sohn war völlig verstört und durcheinander. Ich hatte zu tun, ihn einigermaßen wieder aufzubauen. In der Schule war niemand mehr erreichbar.

Viktor: Die wollten halt Wochenende haben.

Mutter: Am nächsten Tag, Samstag, rief die Rektorin an, um sich nach Viktor zu erkundigen und sich dafür zu entschuldigen, daß sie den Jungen allein zum Arzt geschickt hat. Sie seien alle so verwirrt gewesen. Viktor hätte doch noch gelacht und gesagt, er wolle allein gehen. Da hätten sie ihn losgeschickt. Am Montag hat mich die Klassenleiterin angerufen, die an dem Tag der Tat nicht da war, und hat mich zu dem Elternabend eingeladen.

Vor dem Elternabend hat sich keiner der Mütter und Väter bei Ihnen gemeldet?

Mutter: Nein. Ich hatte fest damit gerechnet, daß sich wenigstens die Mütter von Sascha, Stefan und Francis bei mir melden. Sie sind aber noch nicht einmal zum Elternabend gekommen. Nach Angaben der Rektorin sind das alleinstehende Mütter, die keinen Einfluß mehr auf ihre Söhne hätten.

Viktor, hast du Angst davor, daß Sascha und Stefan aus dem Knast kommen?

Viktor: Klar. Die beiden dürfen zwar nichts mehr anstellen, wenn sie Bewährung bekommen, aber Sascha hat Kumpels. Wenn ich mir so vorstelle, wie Saschas Kumpels aussehen könnten, krieg' ich schon Angst.

Mutter: Es steht ja diese Drohung von Francis im Raum, wenn wir uns an die Polizei wenden, würden Saschas Freunde sich rächen. Viktor macht sich deshalb Sorgen.

Denkst du, daß dich niemand beschützen kann?

Viktor: Wenn sie mich angreifen, kann mir keiner helfen. Aber wenn ich es hinter mir hätte, könnte ich die Kripo verständigen. Bloß dazu bräuchte ich Beweise, es müßte jemand gesehen haben. Wenn ich zur Schule gehe, muß ich eben immer vorher um den Block gucken, daß keiner von denen auftaucht. Interview: Plutonia Plarre