Warnungen eines alten Mannes

Chinas Wirtschaft hat in den letzten Jahren einen unvergleichbaren Boom erlebt – doch niemand glaubt, daß es so glatt weitergehen wird  ■ Aus Peking Catherine Sampson

Schaut auf die Erfahrungen des vergangenen Jahres zurück und lernt aus euren Fehlern, ermahnte Deng Xiaoping kürzlich die Funktionäre der Kommunistischen Partei. Denn Vorsicht sei geboten, so die graue Eminenz Chinas, um „große Verluste“ zu vermeiden.

Der Auftritt des 88jährigen, der sich nur noch selten in der Öffentlichkeit zeigt und dessen Gesundheitszustand allerorts mit Argusaugen beobachtet wird, stand in deutlichem Kontrast zu jenem vor einem Jahr: Anfang 1992 hatte er den Begriff „sozialistische Marktwirtschaft“ geprägt und die erfreulichen Seiten des Kapitalismus gepriesen. Nun sei es an der Zeit, lautete damals seine Botschaft an die Partei, Chinas Bevölkerung und dem Ausland, Risikobereitschaft und Experimentierfreude zu beweisen.

Eine nie gekannte Zuversicht erfaßte viele ChinesInnen, und im Ausland wurde der wirtschaftliche Aufschwung geradezu euphorisch aufgenommen. Die britische Financial Times ging Anfang dieses Jahres sogar soweit, den Mann, der im Juni 1989 immerhin den Schießbefehl gegen die Demonstranten der Demokratiebewegung gegeben hatte, zum „Mann des Jahres“ zu küren. Sein Anspruch auf diesen Titel, erklärte die Zeitung, gründe sich auf die Hypothese, daß das von ihm geförderte Erblühen des Kapitalismus im Jahre 1992 irreversibel geworden sei. Auch der Economist war entzückt. Das reale Wirtschaftswachstum Chinas, berichtete das Wirtschaftsmagazin Ende 1992, habe in den vergangenen 14 Jahren im Durchschnitt jährlich neun Prozent betragen. Die chinesische Ökonomie stehe heute an dritter oder vierter Stelle der Weltrangliste, hinter den USA, Japan und vielleicht Deutschland. Das Magazin stützte sich unter anderem auf einen Bericht des australischen Außenwirtschaftsministeriums. Der Umfang der chinesischen Wirtschaft, so heißt es dort, wird in den chinesischen offiziellen Statistiken gewaltig unterbewertet. Nach amtlichen Angaben liegt das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevölkerung bei 370 US- Dollar. „Die offiziellen Daten geben nur ein Drittel des realen Wertes des Bruttoinlandsprodukts wieder“, so die Studie, die ihre Schlußfolgerungen auf Untersuchungen des Lebensstandards oder der Getreideproduktion stützt. Die in den offiziellen Statistiken angegebenen Daten werden niedrig gehalten, folgern die australischen Experten, um die Anwärterschaft auf westliche Hilfe und günstige Kredite zu erhalten.

Tatsächlich sind Wirtschaftsstatistiken in China kaum verläßlicher als über den Daumen gepeilte Schätzungen. Das mag teilweise daran liegen, daß sie von amtlichen Stellen manipuliert werden. Aber es ist auch eine Folge der immensen Schattenwirtschaft, die im vergangenen Jahr sogar noch stark angewachsen ist. Die Angaben über Einkommen oder Konsum sind kaum mehr als Vermutungen. Während der offizielle Durchschnittslohn immer noch bei rund 200 Yuan (3,5 Yuan sind rund eine Mark) liegt, betrachten viele Beschäftigte staatlicher Unternehmen ihr Grundgehalt nur noch als Taschengeld. Ihr reales Einkommen verdienen sie durch Schwarzarbeit oder Nebenjobs in Privatbetrieben.

In einer Zeit, da ein großer Teil der Welt sich in der Rezession befindet, wirken Chinas Wachstumsrate von 12 Prozent und Exporte im Wert von 85 Milliarden US- Dollar geradezu traumhaft. Aber weist Dengs jüngste Mahnung zur Vorsicht darauf hin, daß der Traum bald platzen könnte? Bei allen Erfolgen, die die chinesische Wirtschaft tatsächlich kennzeichnen — sie steht vor ebenso großen Problemen, und es ist unwahrscheinlich, daß die Entwicklung so glatt weitergehen wird.

In den vergangenen vierzig Jahren ist die Wirtschaftspolitik Chinas wie ein Pendel zwischen wirtschaftlicher Liberalisierung und zentraler Kontrolle hin- und hergeschwungen. Es schien fast unvermeidbar, daß der Boom der letzten Jahre nun neue Schwierigkeiten hervorrufen und vielleicht sogar zu einer Umkehr führen könnte. Wenige Tage nach Beginn des neuen Jahres erklärte der chinesische Vize-Finanzminister Xiang Huaicheng warnend, daß das Defizit im Staatshaushalt trotz des schnellen Wachstums nicht abnimmt. Obwohl die Industrieproduktion 1992 offiziell um 20 Prozent und das Bruttoinlandsprodukt um 12 Prozent stiegen, schätzt die Regierung, daß sich die Staatseinnahmen um höchstens 10 Prozent erhöhen. Das Defizit wird zwar voraussichtlich unter den geplanten 20,7 Milliarden Yuan liegen. Das schließt aber nicht die im Haushalt vorgesehenen 30 Milliarden US-Dollar Auslandschulden sowie 40 Milliarden Yuan Inlandsverbindlichkeiten ein.

Die niedrigen Staatseinnahmen würden dazu führen, daß die Kontrolle der Zentralregierung über die Wirtschaft geringer werde, erklärte der Vize-Finanzminister. Dengs Reformen sind in den Sonderwirtschaftszonen der Küstenregionen am erfolgreichsten gewesen, wo Handel und Investitionen durch Hongkong und Taiwan beflügelt werden. Der private und der kollektive Sektor, die in China fast nicht mehr zu unterscheiden sind, können einen einzigartigen Boom verzeichnen. Doch der staatliche Sektor, die großen Betriebe, haben davon so gut wie nicht profitiert. Dabei werden dort etwa die Hälfte der Industrieerzeugnisse des Landes hergestellt. Zwei Drittel der Betriebe fährt jedoch gigantische Verluste ein. Allein 1991 mußte die Zentralregierung die staatlichen Unternehmen, die rote Zahlen schrieben, mit über 50 Milliarden Yuan subventionieren. „Die Situation hat sich 1992 kaum verbessert“, berichtete Xiang. In dem Bemühen, dem Staatssektor auf die Beine zu helfen, gibt die Zentralregierung jährlich weitere 10 Milliarden Yuan aus, die zur Verbesserung der Effizienz der Staatsbetriebe verwandt werden sollen – bislang ohne jede Wirkung, wie selbst der stellvertretende Fianzminister zugibt.

Die Sorge der KP um soziale Stabilität war immer eng mit der zentralen Planung verbunden. Nun ist aber eine Abmagerungskur der staatlichen Industrie notwendig geworden, die nicht nur Millionen ihre Arbeitplätze kosten, sondern auch die Preise auf das Niveau des freien Marktes treiben dürfte. Doch gerade damit wächst die Gefahr sozialer Unruhen. Aber auch auf dem Lande mehren sich die Zeichen der Unzufriedenheit. Rund 75 Prozent der 1,1 Milliarden ChinesInnen leben von der Landwirtschaft. Zwar ist ihr Einkommen in den letzten Jahren gestiegen, aber noch immer gibt es vor allem im Westen und Südwesten Chinas große Armut. Chinas Zeitungen berichten darüber, daß sich immer mehr Bauern beklagen, die Inflation steige schneller als ihre Einkommen. Dazu kommt, daß lokale Funktionäre oft sehr einfallsreich sind, wenn es darum geht, Steuern und vielfältige Abgaben zu erheben. Erhebliche Unruhe hat zum Beispiel in der Zentralprovinz Sichuan die Tatsache ausgelöst, daß der Staat für den Reis, den er von den Bauern kaufte, nicht bezahlen konnte, und statt dessen Schuldscheine ausgab. Der Zorn der Bevölkerung wird durch die Korruptheit vieler Funktionäre noch weiter angeheizt.

Doch die größte Schwierigkeit ist, daß die Wirtschaft seit Ende vergangenen Jahres deutliche Anzeichen der Überhitzung zeigt. Erinnerungen an 1988 wurden wach, als eine Inflation von 30 Prozent zu den verbreiteten sozialen Unruhen von 1989 beitrug. Im letzten Jahr lag die Inflationsrate zwar im Landesdurchschitt noch unter sechs Prozent. Doch in einigen großen Städten wie Shanghai und Kanton stieg sie auf fast 13 Prozent. Anders als 1988, als es Panikkäufe gab und Banken gestürmt wurden, versuchen die Leute jetzt, ihre Ersparnisse in Gold oder US-Dollars einzutauschen. In diesem Jahr wird mit weiteren Preissteigerungen gerechnet, und die Pekinger Führung wird wieder einmal vor der Alternative stehen, die Reformen zu verlangsamen oder auf einen Knall zuzusteuern.