Starr wie der Fujiyama

Die Rezession hat Japan eingeholt – doch weder Regierung noch Unternehmen können derzeit eine wirtschaftspolitische Vision anbieten  ■ Aus Tokio Georg Blume

Je tiefer der Winter, desto tiefer die Rezession. Bewegungslos steht das weiße Dreieck des Fujiyamas zu dieser Jahreszeit am Tokioter Horizont. Und diesmal täuscht die Winterstarre nicht: Mitten in der Hauptstadt sind die wirtschafts- und finanzpolitischen Kanäle zugefroren. Untätig schauen Manager und Bürokraten zu, wie sich die wirtschaftliche Lage von Tag zu Tag verschlechtert. Geld- und Kreditmangel drehen den Querverbindungen innerhalb der Business- Community den Hahn ab. Sogar Japans legendäre Flexibilität im goldenen Dreieck zwischen Unternehmern, Regierungsbürokraten und der Zentralbank leidet unter dem Klimawechsel. In der Krise denken die Institutionen nur mehr an ihr eigenes Überleben.

Was Japan bisher so stark machte, ist plötzlich an der Spitze aufgebrochen: Politikern und Unternehmern fehlt derzeit ein wirtschaftspolitischer Konsens. Man streitet sich über Steuererhöhungen und Haushaltskürzungen. Auch die Zinspolitik ist ein ständiger Zankapfel. Um über die Reibereien hinwegzutäuschen, macht die Regierung alles noch schlimmer: Sie malt Wachstumsschlösser in die Luft, die nach Terminablauf wie Ballons zerplatzen. 3,3 Prozent Wirtschaftswachstum soll Japan demnach im kommenden Finanzjahr erreichen. Dabei ist das Bruttosozialprodukt nach den meisten Voraussagen in den letzten sechs Monaten geschrumpft und ein Aufschwung nicht in Sicht.

Nippons Krise kommt für alle zur falschen Zeit. Mit der zweitgrößten Volkswirtschaft im Abwärtstrend sinken die Exportchancen der restlichen Welt. Das nachlassende Importgeschäft in Japan hat bereits 1992 den japanischen Handelsüberschuß auf die Rekordhöhe von 172 Milliarden Mark schnellen lassen. 1993 soll der Überschuß noch weiter anwachsen. Gegenüber der neuen Regierung in Washington steht Japan damit bereits vor der ersten offiziellen Kontaktaufnahme auf der Anklagebank. Aber auch die EG verstärkt den Handelsdruck. Bis zum Weltwirtschaftsgipfel in Tokio im Juli will der Westen Japan zum Nachgeben zwingen.

Alle japanischen Wegweiser zeigen in die Rezession: Im Dezember fielen die Kaufhausumsätze um den Rekordsatz von 5,7 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, Autohändler mußten sogar Umsatzeinbußen von 8,3 Prozent hinnehmen. Insgesamt ging die Industrieproduktion 1992 zurück, während die Lagerbestände zunahmen. Gleichzeitig stiegen die Verbraucherausgaben 1992 um nur 2,2 Prozent – das ist der geringste Zuwachs seit zehn Jahren. Wer in dieser Unmenge von roten oder halbroten Indikatoren nach hoffnungsvollen Zeichen sucht, tut dies derzeit vergeblich.

Zusätzlich Beunruhigung verschafft die erst jetzt erkennbare Tatsache, daß selbst die besten Unternehmen des Landes in den Boomjahren bis 1990 zu aufwendig gewirtschaftet haben. Die Erosion ihrer Finanzgeschäfte zeigt auch, daß die im Produktionsbereich getätigten Investitionen die Profitabilität der Unternehmen während der vergangenen Jahre nicht verbessert haben. Der Boom führte also vornehmlich zu Umsatzsteigerungen, welche nun im Zuge der Verbrauchersättigung gefährdet erscheinen. Die durchschnittliche Profitrate der großen Unternehmen (1991: 4,11 Prozent) könnte noch in diesem Jahr ein historisches Tief erreichen. Die Zeichen der Zeit sind unverkennbar: Als erstes japanisches Großunternehmen gab NEC vor kurzem die Herstellung von Videorekordern auf.

Das NEC-Beispiel wird Schule machen. Besonders die gestiegenen Personalkosten und die hohen Abschreibungen für die zurückliegenden Investitionen zwingen die Unternehmen zu Sparmaßnahmen. Die großen Firmen streichen deshalb ihre Forschungsbudgets zusammen, geben neue Produktlinien auf und kürzen ihre Produktpalette. Nur die heilige Kuh der lebenslangen Beschäftigung hat bislang überlebt. Die Arbeitslosigkeit stieg zwar leicht von 2,12 Prozent im Juni auf 2,30 Prozent im Dezember. Aufgrund des sozialen Tabus und des mittelfristig erwarteten Arbeitskräftemangels erlebt Japan aber eine Rezession fast ohne Entlassungen – das ist zweifellos die versöhnende Seite der Krise. Der breiten Bevölkerung hat diese Arbeitsplatzsicherheit offenbar geholfen, die Schwierigkeiten vernünftig abzuschätzen. Nippons private Haushalte sparen wieder, so wie es sich in mageren Zeiten gehört. Anders als derzeit die Deutschen richten die Japaner ihr Konsumverhalten nach dem Wohlergehen der Volkswirtschaft aus und sammeln damit langfristig das Kapital für neue Investitionen. Doch ausgerechnet Regierung und Unternehmen, die bisher von den hohen Spareinlagen ihrer Bürger am meisten profitiert haben, protestieren gegen den gesunden Menschenverstand. Sie verlangen vom Verbraucher ein offenes Portemonnaie, um die Wirtschaft kurzfristig anzukurbeln. Genau aus diesem Grund sind auch Steuerkürzungen und staatliche Investitionsprogramme wieder im Gespräch.

„Die Verbraucherhaltung ist im Verhältnis zur Wirtschaftslage übermäßig pessimistisch“, versucht sich Arbeitgeberboß Takeshi Nagano aus der Verantwortung zu stehlen. Auch NEC-Chef Takahiro Sekimoto stößt ins gleiche Horn: „Das Volk muß das Gefühl bekommen, daß es nicht noch schlimmer wird.“ Die Regierung steht also unter Handlungsdruck. Bisher hatte sie es vor allem auf die Zentralbank abgesehen, deren hartnäckiger Gouverneur Yasushi Mieno sich partout weigerte, den Leitzins weiter zu senken, der heute bei 3,25 Prozent steht. Voraussichtlich wird die Zentralbank heute nachgeben und den Zinssatz auf 2,5 Prozent senken.

Premierminister Kiichi Miyazawa zeigte bisher als einziger den Mut zum Eingeständnis. Sämtlichen Wirtschaftsbehörden hätte schon im vergangenen Jahr eine „klare Vision“ gefehlt, sagte Miyazawa vor dem Parlament. Eine eigene Vision der Dinge gab freilich auch der Regierungschef nicht. So bleibt die Frage nach einer Konjunkturpolitik derzeit offen.

Ginge es nur um die Partner in Übersee, dann müßten die Japaner jetzt kräftig pokern, um mit der Inlandsnachfrage auch die Importe wieder zu stimulieren. Für die Finanzbeamten aber zählen selbst die jetzigen Rezessionstage noch zu den fetten Jahren: sie errechnen nämlich einen dramatischen Schwund der Staatsfinanzen nach dem Jahr 2000, wenn die arbeitende Bevölkerung gegenüber Pensionären und Kindern in die Minderheit gerät.