Ich bin (k)ein Berliner

■ Who is Who: das neue „Berliner Biographische Lexikon“

Zille war einer. Der Hauptmann von Köpenick war einer. John F. Kennedy war einer, hat es zumindest von sich behauptet. Aber war auch Albrecht der Bär einer? War der Markgraf von Brandenburg ein Berliner? Für das „Berliner Biographische Lexikon“ steht das außer Frage. Dabei ist Albrecht, der Gründer des späteren Staates Brandenburg, schon anno 1170 und damit fast 70 Jahre vor der ersten urkundlichen Erwähnung der Stadt Berlin gestorben, wie aus dem neu erschienenen Nachschlagewerk zu erfahren ist.

Albrecht der Bär ist jedenfalls eine von rund 1.500 Persönlichkeiten, die entweder „in Berlin lebten oder für Berlin wirkten“ und deshalb für würdig befunden wurden, in das Nachschlagewerk aufgenommen zu werden. Nach Diepgen, Juhnke oder Krenz sucht man glücklicherweise vergebens: Nur bereits verstorbene Berlinerinnen und Berliner sind berücksichtigt – bis hin zu Willy Brandt, der am 8. Oktober starb.

Wer die Ansammlung von bedeutenden und weniger bedeutenden Toten für ungenügend hält, muß sich dem bescheidenen Anspruch des Buches geschlagen geben: Für die Auswahl, so heißt es im Vorwort, war „die Beurteilung künstlerischer und wissenschaftlicher Leistung durch die Herausgeber ausschlaggebend“. Punkt und aus. Da kann es den Herausgebern auch niemand beckmesserisch ankreiden, daß Persönlichkeiten fehlen wie der von den Nazis ermordete Künstler Felix Nussbaum, der Revolutionär Karl Radek, die NS- Schergen Reinhard Heydrich, Heinrich Himmler oder die zeitweise in Berlin arbeitenden Schriftsteller Franz Kafka, Robert Musil und Vladimir Nabokov.

Daß das Nachschlagewerk für einen großen Leserkreis zusammengestellt und geschrieben ist, verraten spätestens die Literaturangaben, die zumindest bei den historischen Persönlichkeiten lieber einen Wälzer aus dem Jahre 1954 anführen statt das intelligente Buch eines zeitgenössischen Historikers. Und auch die spannenden und wirkungsträchtigen Vitae von Persönlichkeiten wie dem Wasserball-Trainer Alfred Balen (Spandau 04) oder dem Berufsboxer Hans Breitensträter sind dem Rezept geschuldet: Wer vielen etwas bieten will...

Glücklicherweise wählen die Autorinnen und Autoren nicht nach dem Maßstab deutscher Nationalgeschichte aus. Berliner Geschichte und Atmosphäre wurden in ihren Augen nicht nur von Friedrich II., Heine, Moltke und Bismarck gestaltet, sondern auch von Kneipenberühmtheiten, halbseidenen Typen und stadtbekannten Artistinnen, auch von 48er Revolutionären und 68ern, auch von Hitler, Freisler, Horst Wessel und deren Opfern.

Geburtsort und Ausbildung, Einstieg in die Politik, Festungshaft und Wahlerfolge, das alles zählt das Biographien-Lexikon etwa im Artikel „Hitler, Adolf“ feinsäuberlich auf. Was fehlt, ist der Berlin-Bezug: Wo wohnte der NSDAP-Führer, bevor er in die Reichskanzlei einzog? Was hielt der Diktator, der die überwiegende Zeit seiner Kanzlerschaft eben nicht an der Spree verbrachte, von den Berlinern? Ganz ähnlich bei der anderen Zentralgestalt preußisch-deutscher Geschichte, bei Bismarck: Funktionen noch und nöcher sind aufgeführt, aber kein Berliner Wohnsitz, kein Hinweis, ob sich der preußische Ministerpräsident in Stadtpolitik einmischte, wo er residierte, sich zum Bier traf oder spazierenritt.

Das ist die entscheidende konzeptionelle Schwäche des Bandes: Die Berühmten werden als Berühmte vorgestellt mit denjenen Leistungen oder Verbrechen, die sie bekanntgemacht haben und die den meisten Lesern auch geläufig sein dürften. Aber der Neugierige, der sie als Berliner kennenlernen will, erfährt eben nichts über sie als Bewohner dieser Stadt, nichts über den Menschen, der eine ganz persönliche, unverwechselbare Beziehung zur alten und neuen Hauptstadt pflegte.

Die Fehlkonzeption hat Folgen: So ist denn – für Heimatkundler oder Verehrer – stets angegeben, auf welchem Berliner Friedhof einer seine letzte Ruhestätte fand. Aber daß der Maler Max Liebermann am Pariser Platz wohnte, wo er bekanntlich die Nazi-Fackelzüge beobachten mußte („Ich kann gar nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte“), steht nirgendwo. Genausowenig ist aufgeführt, wo Brecht seinen Schreibtisch aufstellte, wo der Dramatiker in den 20ern verkehrte, bevor er nach dem Krieg sein Theater am Schiffbauerdamm erhielt. Selten ein Wort über Wohnhäuser, Treffpunkte oder Schauplätze, wo doch viele Häuser heute Gedenkktafeln tragen: Robert Musils Arbeitsstätte auf dem Kurfürstendamm oder der Ort des Attentats auf Walter Rathenau, dem die Mörder im Juni 1922 auf dem Weg ins Büro auflauerten. Aber im Artikel Rathenau findet sich zur Koenigsallee kein Wort, es bleibt beim schlichten Fakt „ermordet“.

So hält das „Berliner Biographische Lexikon“ das meiste von dem, was es verspricht, verschenkt jedoch die Chance, ein wirklich nützliches Buch zu werden. Es könnte ein Menschen- und Ortsbuch sein und bietet doch zu einem großen Teil nur Biographien, wie sie nicht spezifisch auf Berlin zugeschnittene Nachschlagewerke auch bieten.

Kennedy übrigens sucht man vergebens, weil die Lexikon-Herausgeber seiner Selbstbezichtigung nicht auf den Leim gegangen sind. Er war eben doch keiner. Hans Monath

Bodo Rollka, Volker Spiess, Bernhard Thieme (Herausgeber): „Berliner Biographisches Lexikon“, 444 S., zahlreiche Abbildungen, gebunden, Haude und Spenersche Verlagsbuchhandlung, Berlin 1993, Subskriptionspreis bis 28. Februar 48 Mark, danach 64 Mark.