: Man muß wissen, was man will
■ Kritische Reflexion über das Berliner Telefonbuch
Vom Feuilleton auch dieser Zeitung bisher übersehen, vom „Literarischen Quartett“ sträflich mißachtet, nur im Ausnahmefall (ein solcher bin ich) eines ordentlichen Platzes im Bücherregal gewürdigt: Das Telefonbuch fristet ein Schattendasein. Dabei bedarf es keiner besonderen Vorlieben, diese wichtigste aller Neuerscheinungen im Frühjahr – die nebenbei die literarische Grundversorgung der Bevölkerung sichert – seiner besonderen Qualitäten wegen zu schätzen – und vor allem zu lesen. Denn, dies vorweg, nur zur Lektüre taugt es – ohne Nerven zu kosten. 3.496 Seiten Umfang hat das derzeit gültige dreibändige Berliner Verzeichnis, das erstmals den Ost- und Westteil der Stadt zusammenfaßt. Jede Seite wiegt 1 g. Es lohnt die Mühe, das dreieinhalb Kilo schwere Paket vom Postamt nach Hause zu schleppen.
Auch diesmal übertreffen die Illustrationen auf dem Buchdeckel alle Erwartungen. Mehrfarbig gedruckt, zeigen sie die drei schönsten Bauten Berlins und versehen sie in zwei Fällen mit einem an Schärfe kaum zu überbietenden Kommentar: Am Reichstag schwebt ein führerloser Umzugswagen vorbei, vor dem Brandenburger Tor versperrt ein Biertransporter die Durchfahrt. Die erste Seite des Bandes A–H, das Inhaltsverzeichnis, ist mit dem gefährlichsten Telefonhörer der Nation geschmückt. Wie der Lauf eines Gewehres richtet er sich auf den Betrachter. Erschrocken blättert man weiter und läßt sich über die Telefon-Sonderdienste und -ansagen informieren. Sie machen neugierig, so zum Beispiel „Kinoprogramme mit den Ausschnitten aus Schallplatten“ und „Sonderansagen für Polizei und Staatsanwaltschaft“. Enttäuschend allerdings, daß für „Ausflüge, Sonderfahrten“ und den „Tierärztlichen Notdienst“ keine speziellen Piktogramme entworfen wurden. Welche Gestaltungsmöglichkeiten offengestanden hätten, zeigt das Symbol für „Klassenlotterie“ (Glückskleeblatt).
Die Zeichenerklärungen auf Seite 5 sind an einigen – zugegeben wenigen – Stellen verwirrend: Wer hätte je gedacht, daß es längere und kürzere Kennzahlen gibt? Ein x hinter der Kennzahl bedeutet, so wird erklärt, daß der „betreffende Ortsnetzbereich in der nahen Umgebung (?) u. U. auch einfacher (??) durch Vorwahl einer kürzeren Kennzahl (???) zu erreichen ist“. Telefonieren will eben gelernt sein. Für Anfänger sind die Seiten 6 und 7 Pflichtlektüre (erster Lehrsatz: „Hörer nur zum Telefonieren abheben“), aber selbst Profis werden sich nicht langweilen. Siehe: „Rheinfunk-Gespräche“.
Das Berliner Telefonbuch ist seines stattlichen Umfangs wegen ein unerschöpfliches Reservoir kurzweiliger Lektüreerlebnisse: Schon ein kurzes Blättern in Band1 beschert Entdeckungen: „Aquaristikbedarf in den Rohrbruchwiesen“, „Schock-Automobile“, „Bundesopiumstelle“, „Jalousien im Friedrichshain“ — sie alle haben einen Telefonanschluß. Jede Seite lädt zu stundenlangem Spekulieren ein: Weshalb läßt jemand seinen Vornamen abkürzen, gibt jedoch die Adresse preis? Warum verschweigen stadtbekannte Professoren ihre akademischen Titel, bei einem „Ing.“ vom Ernst-Lemmer-Ring (Angaben geändert) steht er jedoch im Fettdruck dabei? Wieso wird ausgerechnet das Konterfei eines Bestattungsunternehmers abgebildet (Bd. 3, S. 379)?
Mag bei der Lektüre des Telefonbuches noch manches zu verzeihen, in seiner Rätselhaftigkeit sogar reizvoll sein, als Nachschlagewerk ist es nur von begrenztem Wert. Gerade in Notfällen läßt es einen im Stich. Der Pappdeckel ist zu schwach, das Buch gleitet einem bei hektischem Suchen und Blättern aus der Hand. Der „Notarzt“ – er hat keinen Eintrag, statt dessen ist er unter „Kassenärztlicher Notfalldienst“ zu alarmieren. Wer weiß das schon? (Der Gerechtigkeit halber: Die Rufnummer steht auf dem Cover von Band 1, ist aber dort leicht zu übersehen. Schließlich guckt man in Bücher rein, nicht drauf.) Die „Gaswache“ fehlt ganz – vielleicht ist das Absicht: Funkenbildung vermeiden! Wer die BVG sucht, wird auf „Berliner Verkehrs-Betriebe“ verwiesen, vom „Senat“, Band 3, jagt man den Suchenden nach Band 2 zur „Landesregierung“. Die „Bundespost“ steht unter „Post“. Lernen sollte man nichts daraus: Die Regierung steht unter „Bundesregierung“. Skandalös der Sammeleintrag „Gaststätten“: Wer Michi sagen möchte, daß er im Café Soundso noch etwas warten soll, der kann sein blaues Wunder erleben. Nur unter dem antiquierten Begriff „Gaststätte“ – o Täler weit, o Höhen – sind die Cafés, Restaurants, Imbißstuben und Nachtclubs aufgeführt. Wer die Nummer einer Bar sucht, der findet nur den Franz, den Mehmet und den Uwe.
Ein Lob der Typographie: Selbst langes Lesen beziehungsweise Suchen ermüdet kaum, nur zwischen den Kolonnen der Schmidts und Schulzes wünschte man sich Inseln der Beruhigung. Apropos Schmidt und Schulze: Hier gelangt das Telefonbuch aus verständlichen Gründen an seine Grenzen. Der Schmidt, dessen Vorname einem entfallen ist, von dem man nur noch die Adresse weiß, bleibt unauffindbar. Einzige Rettung: der Anruf (freie Leitung zwischen 0 und 5 Uhr) bei den Damen und Herren von der Auskunft. Die haben nämlich einen Computer. Ob uns ein solcher als Ersatz fürs Telefonbuch bevorsteht, wie in Frankreich schon geschehen? Bei der Oberpostdirektion in Berlin (telefonische Anfrage vom 2.2. 93) kannte man den „Minitel“ noch nicht. Wir Freunde des Telefonbuchs – demnächst e.V. – können beruhigt sein. Stephan Schurr
Amtliches Telefonbuch der Deutschen Bundespost Telekom, Ortsnetzbereich 1 (Berlin) Bde. 1–3, Verlag Deutsche Postreklame GmbH, 7,20 Mark.
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