Stadt ohne Hoffnung

Der Dollarsegen der UNO beschert Phnom Penh einen kurzen und trügerischen Boom  ■ Aus Phnom Penh Michael Sontheimer

Die Kapelle spielt einmal mehr den notorischen Lambada, auf der Tanzfläche herrscht schweißtreibendes Gedränge. Abend für Abend wird im „Bang Kak Thmey“ in Kambodschas Hauptstadt ausgelassen gefeiert. Das Restaurant am See ist nur eines von vielen, in denen Schieber und Spekulanten gemeinsam mit korrupten Regierungsangestellten und Offizieren Carlsberg-Bier oder Hennessy mit viel Soda und Eis in sich hineinschütten. An ihrer Seite haben sie „dancing girls“, die sich nicht nur zum Tanzen feilbieten.

Neben der korrupten kambodschanischen Elite vertreiben sich Geschäftsleute aus Thailand oder Taiwan die angenehm kühlen Nächte der Trockenzeit in diesen Etablissements. „Phnom Penh ist ein einziges Bordell“, seufzt ein französischer UN-Mitarbeiter – bevor er selbst ein Mädchen in seinen Wagen einlädt.

Seit die „United Nations Transitional Authority in Cambodia“, UNTAC, mit über 20.000 Soldaten und Zivilisten aus 41 Ländern in Kambodscha einmarschierte, ist ein ungekannter Dollarsegen über das Land und vor allem über Phnom Penh hereingebrochen. Das UNTAC-Personal, das pro Kopf und Tag zusätzlich zu seinem Gehalt eine Erschwerniszulage von 145 US-Dollar kassiert, bringt täglich rund 300.000 US-Dollar in Umlauf. Die Preise der Hotels sind innerhalb eines Jahres um das Dreifache gestiegen. Und allenthalben finden sich Baustellen, auf denen vietnamesische Arbeiter in Windeseile neue Hotels, Restaurants, Bars und Spielcasinos aufmauern. Meist sind es Thais oder Chinesen aus Hongkong, Taiwan oder Singapur, die mit kambodschanischen Strohmännern das schnelle Geld zu machen versuchen.

Im Mai 1989 hatte die zehn Jahre zuvor von den Vietnamesen eingesetzte Regierung unter Hun Sen – einem ehemaligen Roten Khmer – den Schutz des Privateigentums in einer neuen Verfassung verankert. Seitdem ist eine sanguinische Spekulationswut über die Hauptstadt hereingebrochen; die Grundstückspreise sind um das Zwanzigfache gestiegen. Es herrscht ein anarchischer Kapitalismus. Dieser bringt wie überall die Motorisierung mit sich. Als die vietnamesische Volksarmee vor drei Jahren ihre letzten Truppen abzog, beherrschten Fahrräder den Acha-Mean-Boulevard, die Hauptstraße Phnom Penhs, heute stauen sich dort die motorisierten Vehikel. Wer damals auf dem Fahrrad fuhr, besitzt heute ein Moped; wer eine Honda sein eigen nannte, steuert heute ein Automobil. Im Mai will der erste BMW- Vertragshändler aus Singapur einen Auto-Salon eröffnen. Angesichts der allgemeinen Armut präsentiert sich der Reichtum als Obszönität. Die nouveaux riches Phnom Penhs passieren in ihren wohltemperierten Luxuslimousinen Propagandatafeln, auf denen Arbeiter, Bauern und Soldaten im Schweiße ihres Angesichts das Land wieder aufbauen – während die Obdachlosen, Krüppel und Waisen, die das Straßenbild verunzieren, von der Polizei in Sumpfgebiete am Stadtrand oder eine Insel im Mekong deportiert werden.

Die Gier nach Genuß

„Es ist nur eine kurze Scheinblüte“, urteilt ein Unicef-Mitarbeiter. „Sobald die UNTAC wieder abgezogen ist, bricht der künstliche Boom sofort in sich zusammen.“ Bislang fehlt es völlig an produktiven Investitionen; das vor allem von Japan finanzierte Wiederaufbauprogramm liegt noch auf Eis. Kambodscha ist fast vollständig von Importen aus Thailand, Singapur und anderen asiatischen Ländern abhängig. Im Gegenzug werden die natürlichen Ressourcen – vor allem Holz – in einem solch rasanten Tempo verschleudert, daß sie innerhalb weniger Jahre aufgebraucht sein werden.

„Der gegenwärtige Zustand Kambodschas ist jämmerlich und die Zukunft bedrohlich“, notierte der französische Forschungsreisende Henri Mouhot im Jahre 1858 über das Königreich Kambodscha. Seine Begründung für die bis heute andauernde Misere: „Die Souveräne und Mandarine bereichern sich durch Schieberei und Auspressung sowie jeglichen Mißbrauch, der ein Land ruinieren und seinen Fortschritt aufhalten kann.“

Die Tragödie dieses kleinen Landes im Herzen Indochinas ist nicht zuletzt darin begründet, daß es nie eine Elite hervorbrachte, die sich dem Gemeinwohl verpflichtet gefühlt hätte. Wer auch immer über Macht verfügt, nutzt diese vor allem anderen, um sich zu bereichern und seinen Familienmitgliedern lukrative Posten zu verschaffen.

Und was noch verschärfend hinzukommt: Die vier Jahre des Pol- Pot-Regimes von April 1975 bis Januar 1979 – mit ihrer Vernichtung der Intelligenz und der brutalen Zerstörung der Gesellschaft und ihrer traditionellen Institutionen und Werte – haben acht Millionen rücksichtslose Individualanarchisten hinterlassen, die täglich aufs neue um ihr Überleben kämpfen müssen.

Sie sehnen sich nach Frieden und gieren gleichzeitig nach gedankenlosem Genuß. Niemand weiß, ob und wann der Bürgerkrieg wieder richtig ausbrechen wird, was nach den für Ende Mai angesetzten Wahlen und dem Abzug der UNTAC geschehen wird. Also wollen die Khmer das Leben genießen, solange es ihnen noch vergönnt ist.

Die Korruption ist maßlos und vereint den kleinen Polizisten mit den fünf Geschwistern des Ministerpräsidenten Hun Sen und der gesamten politischen Führung. Der derzeitige Ausverkauf stellt allerdings alles bisher Dagewesene in den Schatten. So hat der Gesundheitsminister gerade das städtische Institut für Wasserhygiene verkauft. In Battambang, der zweitgrößten Stadt des Landes, wurden gar zwei Krankenhäuser an Grundstücksspekulanten verscherbelt. „Diese Typen wissen genau, daß sie bei den Wahlen, wenn sie denn stattfinden, keine Chance mehr haben“, erläutert dies die Mitarbeiterin einer Hilfsorganisation. „Also verschleudern sie jetzt noch alles, was sie nur irgend können.“

Der UNTAC-Sicherheitschef hielt unlängst vor mehreren hundert Polizisten einen Vortrag über den „Code of Conduct“, den die Vereinten Nationen für Sicherheitskräfte adoptiert haben. Gegen Ende seiner Ausführungen kam er auf Korruption zu sprechen. Hatte das Publikum bislang ruhig zugehört, brach es auf einmal in wildes Lachen aus. Vom kleinen Polizisten bis zum Innenminister, die Kambodschaner konnten sich vor Lachen kaum halten.

Die Polizisten Phnom Penhs, die mit ihrem Lohn von umgerechnet 15 Mark im Monat ihre Familien nicht ernähren können, setzen sich Abends auf ihre Mopeds und fahren mit der Kalaschnikow unter dem Arm vor die Stadt. Dort gehen sie ihrer wesentlich einträglicheren Nebenbeschäftigung als Wegelagerer nach.

Schimmelnde Fassaden

Währenddessen machen immer mehr zivile Räuber die Stadt unsicher. War vor vier Jahren der erste bewaffnete Raubüberfall seit der Befreiung vom Pol-Pot-Regime noch wochenlang Stadtgespräch, kommt es heute fast täglich zu Raubmorden. Um weniger als hundert Mark zu erbeuten, werden Menschen getötet. Ein Leben ist nicht viel wert in dieser Stadt, auf der eine tiefe Hoffnungslosigkeit lastet.

Von den wenigen Oasen der Reichen abgesehen, ist Phnom Penh, wo mittlerweile wieder über eine Million Menschen leben, in einem erbärmlichen Zustand des Verfalls. Viele Fassaden haben schwarzen Schimmel angesetzt. Die Seitenstraßen der breiten Boulevards, die ein Odeur von Fäulnis und Urin verströmen, sind von Schlammlöchern durchsetzt. Nackte Kinder spielen dort zwischen Bergen von stinkendem Unrat, zwischen Schweinen und Ratten. In den heruntergekommenen Häusern herrscht eine für europäische Verhältnisse unvorstellbare Enge. Während in einer deutschen Großstadt durchschnittlich dreitausend Menschen auf einem Quadratkilometer leben, sind es hier bis zu fünfzehntausend. Nur jede vierte Familie hat Zugang zu einwandfreiem Trinkwasser. Viele der Armen greifen auch zur Selbsthilfe, hacken einfach die Straße auf, suchen eine Wasserleitung und zapfen sie an.

In den klaren Nächten der Trockenzeit liegt der Mond über Phnom Penh faul auf dem Rücken. Ganze Häuserblocks ragen gespenstisch ins Dunkle. Eine öffentliche Straßenbeleuchtung ist nicht vorhanden, dafür illuminieren schwächliche Glühbirnen und Petroleumlampen Geschäfte und Cafés.

Am Busbahnhof findet sich eine kleine Freiluft-Kneipe, deren Inventar aus einem nicht einmal kniehohen Tisch und einem halben Dutzend Hocker besteht. Auf dem Tisch sind Flaschen mit Reisschnaps und Zuckerpalmenwein aufgereiht, auf einem Holzkohlenfeuer werden gefüllte Kröten gegrillt.

Ein Staatsangestellter und ein Rikschafahrer leeren gemeinsam eine Flasche Reisschnaps. Dabei schimpfen sie über die UNTAC. In Battambang hätten französische Soldaten zwei Mädchen zu Tode vergewaltigt, erzählen sie. Ständig würden die UNTAC-Leute mit ihren Jeeps Kinder überfahren. „Außerdem sind sie feige“, sagt der Rikschafahrer. „Sobald die Roten Khmer schießen, ziehen sie sich zurück.“

Noch inbrünstiger als die UN- Invasoren, die einfach ihr Gesicht verloren haben, hassen die beiden allerdings die Regierung. „Sie sind Banditen“, befindet der Rikschafahrer. „Wenn die Roten Khmer nicht so viele umgebracht hätten, würde ich sie wählen. Sie tun etwas für das Volk.“ Sein Zechkumpan stimmt ihm zu. „Früher, als die Vietnamesen noch hier waren, haben unsere Führer uns immer gesagt, wir sollten wie das einfache Volk leben“, klagt der Staatsangestellte, der inzwischen aus der regierenden Volkspartei ausgetreten ist. „Jetzt fahren wir auf dem Fahrrad und schlucken den Staub ihrer Mercedese.“