Ein Tabu wird angetastet

In Japan erwägt die Regierungspartei erstmals eine Verfassungsänderung/ Pazifismus als Grundlage japanischer Außenpolitik in der Diskussion/ Regierungschef lehnt ab  ■ Aus Tokio Georg Blume

„Wir müssen endlich wissen, was wir mit dieser Verfassung machen können und was nicht.“ Kein Zweifel, Hiroshi Mitsuzuka, der unpopulärste unter Japans Spitzenpolitikern, wollte sich ins Gespräch bringen. Doch diesmal trieb es der Fraktionschef der Liberaldemokratischen Partei (LDP) weiter als andere vor ihm: Ohne Wenn und Aber sprach sich Mitsuzuka in dieser Woche für eine Änderung des Friedensparagraphen der Verfassung aus und brach damit eines der wichtigsten Tabus in der japanischen Politik. Die seit 1955 regierende LDP stürzte Mitsuzuka in die Ratlosigkeit.

Schließlich ist der Pazifismus in Japan Regierungssache. Konservative in aller Welt empfinden Pazifismus als ein Schimpfwort, nur in Japan sind bisher auch die Konservativen Pazifisten. Die Verfassungpräambel, von den Amerikanern verfaßt, schreibt das so vor. Erst jetzt will sich ein Teil der LDP nichts mehr vorschreiben lassen. Sogar Außenminister Michio Watanabe befürwortet nun die Verfassungsrevision.

Im Visier ist der Artikel 9: Darin verzichtet Japan für immer auf Krieg und Gewaltanwendung beim Lösen internationaler Konflikte. LDP-Fraktionschef Mitsuzuka möchte dem Artikel nun eine Ergänzung hinzufügen, die alle pazifistischen Prinzipien außer Kraft setzt, wenn eine UNO-Entscheidung das erlaubt. Nur so könne Japan das Anrecht auf einen ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat beanspruchen, glaubt der LDP-Politiker. Bereits im vergangenen Jahr verabschiedete Japan ein neues Blauhelmgesetz. Heftige Debatten in Parlament und Öffentlichkeit führten zu einem Kompromiß, der japanischen Soldaten zwar erstmals einen Einsatz im Ausland erlaubte, jedoch nur für nicht-militärische Ziele.

Schon beim ersten japanischen Blauhelmaufgebot in Kambodscha erweist sich jedoch die praktische Abgrenzung von militärischen und nicht-militärischen Zielen als schwierig. Die neue Verfassungskritik kommt den verantwortlichen Beamten und Militärs also gerade recht.

Mitsuzukas Vorschlag trifft zudem den politisch empfindlichsten Nerv der Nation: Für gewöhnlich sind die Japaner nämlich gar nicht arrogant und glauben, von der Welt nicht viel zu verstehen. Frieden setzen sie deshalb mit Nichteinmischung gleich. Inzwischen muß Japan aber auch Weltmacht sein, der Reichtum macht es unvermeidlich. Vor allem jüngere Politiker meinen deshalb, das Land ertrage diesen Widerspruch nicht mehr und müsse international aktiver werden. Die alten Leute aber fürchten dann, am Ende komme doch wieder nur Krieg heraus.

In den westlichen Hauptstädten sind Japans pazifistische Sorgen längst nicht mehr nachvollziehbar. Wer in Afrika geschäftliche Profite macht, kann dort auch mit UNO- Soldaten Friedensverantwortung tragen: So jedenfalls wird es UNO- Generalsekretär Butros Butros Ghali den Japanern während seines bevorstehenden Besuchs in Tokio einimpfen. Ein Teil der LDP will ihn deshalb triumphal empfangen. Nur Premierminister Kiichi Miyazawa, der gleichzeitig LDP- Parteichef ist, schüttelt den Kopf.

Zum ersten Mal in seiner 15monatigen Amtszeit zeigt der Regierungschef Rückgrat: Außenminister Watanabe verbot er unverzüglich, in seiner Regierungsfunktion die Verfassung zu kritisieren. Selbst verkündete er vor dem Parlament, daß unter seiner Führung eine Verfassungsdebatte nicht in Frage käme. Die politische Standfestigkeit des Premierministers überraschte selbst seine Gegenspieler.

Tatsächlich steht Miyazawa noch für die Nachkriegsgeneration in der Politik, welche das Land politisch in den Schatten der USA stellte, um es wirtschaftlich lautlos aufzubauen. „Japan wird nie wieder Militärmacht sein“, verkündete der Premier erst vor wenigen Tagen während einer programmatischen Rede in Bangkok. Das Außenministerium sprach anschließend von einer neuen „Miyazawa- Doktrin“. Doch für den Regierungschef wird es deshalb nicht leichter, sich innerhalb der LDP durchzusetzen.

Nicht nur Mitsuzuka und Watanabe, die in der LDP eigene Fraktionsgruppen führen, zählen zu den Revisionisten. Unter dem Motto „Vom passiven zum aktiven Pazifismus“ legte eine einflußreiche LDP-Gruppe um den ehemaligen Generalsekretär Ichiro Ozawa am Donnerstag ihren Bericht vor, welcher eine Neuinterpretation der Verfassung befürwortet, derzufolge Japan auch ohne Verfassungsänderung an allen UN-Friedensaktionen teilnehmen könne.

In Wirklichkeit geht es natürlich um etwas anderes, nämlich um die Vorherrschaft in der Partei. Seitdem der übermächtige Fraktionschef Shin Kanemaru im Skandaltrubel des letzten Jahres unterging, fehlt der LDP eine klare Hackordnung. Der Verfassungsdebatte gibt das freilich zusätzlichen Zündstoff. Falls sich nämlich der Eindruck bestätigt, daß die LDP-Oberen ihren parteiinternen Machtkampf über den Artikel 9 austragen wollen, ist die heilige japanische Kuh des Pazifismus vor nichts mehr sicher.