"Und ich begehre, nicht schuld daran zu sein..."

■ Ralf Fücks hat Anfang Januar eine Debatte um eine humanitäre Intervention für Bosnien losgetreten

„Und ich begehre, nicht schuld daran zu sein...“

Ralf Fücks hat Anfang Januar eine Debatte um eine humanitäre Intervention für Bosnien losgetreten — heute antwortet er den Kritikern

Die Reaktion, die der anstößige Artikel von Graefe zu Baringdorf und mir (abgedruckt in der taz v. 6.1.) ausgelöst hat, unsere Exkommunikation aus den Reihen der Friedensfreunde, wäre persönlich zu verkraften. Bleibt die Hilflosigkeit gegenüber dem fortgesetzten Massaker in unserer Nachbarschaft. Deshalb noch ein Versuch zum Dialog:

1. Im Eifer des Gefechts wurde glatt übersehen, daß wir nicht vorgeschlagen haben, mit Panzern und Bombern über Serbien herzufallen und eine Kopie des Golf-Kriegs aufzuführen. Es geht nicht um militärische Parteinahme für oder gegen eine der kriegführenden Seiten, auch wenn Serbien als Hauptkriegstreiber zu identifizieren ist. Es geht schlicht um die Frage: haben die Vereinten Nationen, hat Europa die Verantwortung und die Möglichkeit, die Bevölkerung der belagerten Städte in Bosnien mit Lebensmitteln und Medikamenten zu versorgen, die Internierungslager aufzulösen und entmilitarisierte Schutzzonen für die Zivilbevölkerung einzurichten, bevor es vollends zu spät ist?

Die Vereinten Nationen versuchen, mit Blauhelm-Truppen eine rudimentäre Versorgung der Zivilbevölkerung aufrechtzuerhalten. Wir fordern, diese Politik offensiver gegenüber den bewaffneten Banden durchzusetzen, statt humanitäre Aktionen vom Wohlwollen der Kriegsherren abhängig zu machen.

Obwohl diese Strategie auf eine Eindämmung der Kriegshandlungen zielt, birgt sie ein Eskalationsrisiko. Wenn die Blauhelm-Aktionen angegriffen werden, müssen sie verteidigt werden (wozu die UN-Konvention berechtigt). Dazu braucht es eine entsprechende militärische Präsenz von UN-Truppen im Kampfgebiet und an den Grenzen Ex-Jugoslawiens. Je entschlossener diese humanitäre Intervention angekündigt und durchgeführt wird, desto geringer wird das Risiko, daß sich daraus ein neuer Krieg entwickelt. 6.000 UN-Soldaten sind angreifbar, 60.000 sind ein Machtwort.

Übrigens: der Admiral a.D. Schmähling, wie andere friedensbewegte Spitzenmilitärs gern zitierter Gegner einer kriegerischen Intervention, hat diesen Vorschlag als erweiterte Blauhelm-Aktion befürwortet.

2. Auch die Forderung nach einem konsequenten Handelsembargo gegen Serbien bewegt sich auf einem schmalen Grat zu militärischem Eingreifen. Wie soll die Importsperre für strategische Güter im Zweifel durchgesetzt werden, wenn dahinter nicht die Bereitschaft steht, Schiffs- oder Landtransporte zu stoppen? Und wieviel Zeit gibt

es noch, die serbische Kriegsmaschine ökonomisch lahmzulegen, bevor sie ihren Kreuzzug vollendet hat?

Erst recht führen friedenserhaltende Blauhelm-Missionen in eine Grauzone zwischen ziviler und militärischer Intervention, jedenfalls dann, wenn sie nicht zum Spielball bewaffneter Gruppen werden sollen.

Daraus kann man natürlich den Schluß ziehen, auch Blauhelm-Aktionen mit oder ohne Bundeswehr-Soldaten zu verdammen, um die pazifistische Reinheit zu bewahren. Daß in bestimmten Situationen (wie in Bosnien, Kambodscha, Somalia) UN- Truppen die letzte Hoffnung für die Zivilbevölkerung sind, darf dann eben nicht sein.

3. Bei der empörten Geißelung „grüner Kriegstreiber“ geht es nur am Rande um die Frage „Was tun“ angesichts der Barbarei vor unserer Haustür. In erster Linie geht es um die Rettung politischer Prinzipien. Kein Kritiker hat auf die Frage, wie die menschliche und politische Tragödie in Bosnien aufzuhalten ist, eine plausible Antwort gegeben. Stattdessen wird die „Schuldfrage“ geklärt (die Verantwortlichen für den halbherzigen Handelsboykott oder die Bundesregierung wegen der voreiligen Anerkennung Sloweniens und Kroatiens, die Serbien zu seiner militärischen Expansion provoziert habe...) und der Verrat an der Friedensbewegung gegeißelt.

Gegenfrage: Galten die pazifistischen Grundsätze tatsächlich immer und überall - für den „Befreiungskampf des vietnamesischen Volkes“ wie für den Guerillakampf der SWAPO und des ANC, für die sandinistische Revolution, „Waffen für El Salvador“ und die Aufrüstung der Sowjetunion?

Ich bin nach wie vor für eine pazifistische Grundhaltung, für die Suche nach nichtmilitärischen Konfliktlösungen, den Verzicht auf Rüstungsexporte und die Abrüstung der Bundeswehr. Aber ich glaube nicht an die Allgemeingültigkeit pazifistischer Politik jenseits von Zeit und Raum. Man muß nicht Auschwitz bemühen, um diese Skepsis zu begründen. Haben wir nicht die westlichen Demokratien kritisiert, weil sie die spanische Republik 1936-38 bei ihrer Selbstverteidigung gegen Franco im Stich gelassen und damit Hitler ermutigt haben? Die Reihe ließe sich verlängern. Historische Beispiele können nicht einfach auf aktuelle Ereignisse übertragen werden. Aber als Herausforderungen, über konkrete Antworten auf konkrete Situationen nachzudenken, statt sich in allgemeingültige Selbstgewißheiten zu flüchten, sollten sie gut sein.

4. Welche politischen Folgen wird die Gleichgültigkeit Europas gegenüber den ethnischen Säuberungen, den Internierungslagern, der nationalistischen Gewaltorgie im ehemaligen Jugoslawien haben, und insbesondere gegenüber dem Schicksal Bosniens, das ein Modell für das friedliche Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Religion war? Hier werden Maßstäbe gesetzt, die weiterwirken werden, so oder so, im Osten und im Westen.

Ein böser Verdacht: Bosnien wird von „links“ wie von „rechts“ im Stich gelassen. Für die NATO gibt es kein besonderes Motiv, sich zu engagieren: Bosnien ist nicht Kuweit, und Serbien nicht Irak. Und für die traditionelle Linke gibt es ebensowenig Grund, sich für „bosnische Nationalisten“ stark zu machen.

Nebenbei verspielt der Westen einmal mehr die Glaubwürdigkeit seiner Menschenrechts- Politik gegenüber der islamischen Welt, wenn ihm das Geschick der Muslime in Bosnien nur papierne Resolutionen wert ist. Bosnien könnte eine Brücke zwischen Europa und dem Islam sein. Sie wird gerade in Stücke gehauen, und kaum jemand bemerkt es.

5. Die „Ohne-mich!“-Bewegung war fortschrittlich gegen die Wiederaufrüstung der Bundesrepublik in den 50er Jahren. Wenn diese Haltung heute zur verbindlichen Leitlinie in der Diskussion um Weltinnenpolitik, UN-Streitkräfte und Blauhelm-Einsätze werden soll, gleitet sie ab in den Versuch, sich in einer komfortablen Idylle einzurichten, während „fern in der Türkei die Völker aufeinanderschlagen“. Der Verweis auf die besondere historische Verantwortung Deutschlands taugt nicht als Begründung, sich humanitären Aktionen zur Verteidigung der Menschenrechte im Rahmen der Vereinten Nationen zu entziehen.

6. Nocheinmal: es geht nicht um den Abschied von ziviler Konfliktvermeidung und -lösung. Es geht um die Frage, welche Machtmittel und Interventionsformen eine internationale Menschenrechtspolitik braucht, wenn sie am dringendsten gebraucht wird. Vielleicht gibt es für Bosnien doch noch einen „dritten Weg“ zwischen Tatenlosigkeit und einer kriegerischen Intervention des Westens, obwohl schon so viel Zeit verloren ist. Pazifismus garantiert jedenfalls keine Unschuld.

Ralf Fücks, 2.2.93