Schwebezustand zwischen Aus- und Aufsteigen

■ Wenn die Oper spart, kann sie gut werden / Heyme-Inszenierung von „La Bohème“ voll gelungen

„Was haben Sie denn dagegen, wenn Mimi auf dem Sofa stirbt?“, fragte die Reporterin nach der Vorstellung. „Sie ist ja gar nicht gestorben“, grummelte angewidert ein ergrauter Opernliebhaber ins Mikrofon.

Man kann ihn durchaus verstehen, denn in Mimis Sterbeszene zeigt sich — wie unter der Lupe — Heymes Her-und Zurichtung von Puccinis populärer Oper über das leichtfüßige Künstlerleben im Schwebezustand zwischen Aussteigen und Aufsteigen. Kein praller Opernabend ergoß sich über das Bremer Publikum, gezeigt wurde ihm stattdessen ein klug konstruierter Essay über Oper, Kunst, Sentimentalität, Künstler, Menschen und Publikum.

Im Finale sah das so aus: Unten im leeren Kinogestühl starren zwei einsame Besucher nach oben. Oben, auf der „Cinemascope-Leinwand“ haucht Mimi ihr zartes, schlichtes und tuberkulöses Leben mit einem unerfüllt fragenden Akkord aus dem Wagnerschen Musikarsenal aus. Die Verblichene versteinert: Ein Bild für die Erinnerung, gut in der Schau-Vitrine abstellbar. Links daneben Schaunard der Musiker und Collin, der Philosoph. Kühl, aber mit Interesse der herzzerreißenden Szene folgend (der Duft ihrer Zigaretten darf den letzten Atemzug der Lungenkranken ruhig veredeln). Sie registrieren menschliches Leid, das künstlerisch verwertbar erscheint. In der Mitte Rudolfo, der Poet, in großer verzweifelnder Operngeste sich zerknirschend. Er weiß noch nicht, zu welchem packenden, zu Herzen gehenden Stück Prosa er die Szene später verarbeiten wird.

Rechts davon das Flittchen Musette, leise, gefaßt, rücksichtsvoll, zur Hilfe bereit. Neben ihr ihr Kumpel Marcel, der Maler, mit aufgerissenem Mund und Entsetzen in den Augen.

Zu matten, sterbenden Akkordschlägen des ergriffenen Orchesters fahren Mimi und Musette nieder zu den beiden einsamen Kinogängern. Das leise Aufschluchzen, das selbst hartgesottene Puccini-Verächter zwanghaft überkommt, wenn der italienische Maestro in die Vollen greift, bleibt aus. Was sich einstellt, ist Staunen. Staunen darüber, daß es machbar ist, Puccinis brillanten, etwas halbseidenen Schmachtfetzen so präzise, mit ironischer Distanz, gleichwohl liebevoll in Szene zu setzen.

Heymes Inszenierung ist vollgestopft mit ironischen Brechungen und Schärfungen, die dem Opernbesucher immer dann, wenn Puccini allzu mächtig aufdreht, Futter fürs Hirn geben und den Blick öffnen für Mimis trauriges Los, das seine Ursache keineswegs in ihrer Schwindsucht hat. Der von Norbert Bellem als Bühnenbildner gezimmerte kahle Bretterverschlag, der das „Kino-Podium“ nach hinten abgrenzt, kann beim zarten Erwachen der Leidenschaften so prächtig festlich und Erwartungen brechend wie ein opern-Vorhang glühen, den nur noch das Licht des Orchestergrabens erhellt.

Wenn sich echtem menschlichem Gefühl poetische Übertreibung beimischt und Text und Musik über die Grenze zwischen Wahrheit und Lüge schlittern, fließt mächtig Color über die Bühne. Wenn im turbulenten Straßenbild um das Künstler- Cafe „Momus“ die im Sperrsitz hinaufglotzenden Volksmassen sich formieren, weiß man, daß sich deren Leben nicht in der Leinwand spiegelt.

Das prächtige Ideenfeuerwerk auf der Bühne des Bremer Goethe-Theaters hätte allerdings so schal und heruntergekommen wirken können, wie die wegen Finanznot aus dem Theater-Fundus zusammengestoppelte Ausstattung, hätte Marcello Viotti, der scheidende Generalmusikdirektor ganz unten im Orchestergraben nicht Puccinis Partitur gradlinig, eher symphonisch orientiert, emotional aufgeladen aber ohne Mätzchen zum Leben erweckt.

Unser Staatsorchester spielte aufmerksam mit großem, aber durchaus herbem Ton mit. Oben entfalteten (von Audiotechnik dezent unterstützt, wie berichtet wurde) die Herren Ki-Chun Park als Rudolfo, Albert Dollin als Marcel, David Hibbard als Philosoph und die Damen Therese Waldner als Mimi und Audrey Luna als Musette die ganze, fürs musikalische Gelingen zwingend erforderliche Fülle des Wohllautes. Dabei erfüllten sie auch noch Heymes szenische Konzeption mit präzisem Kammerspiel. Dank auch an Chor und die übrigen Akteure. Großen Beifall gab es zu Recht für Sänger und Musiker. All diejenigen, denen Heyme „ihre“ Bohème geklaut hatte, bedachten den Hausherrn mit kraftvollen Buhs, denen der Rezensent ein verhaltenes Bravo beimengte.

Die Zukunft des bremischen Musiktheaters sollte diese Bohème laut Heyme nicht markieren. Eigentlich schade, wenn es den Etat des Theaters entlasten sollte, mag der Hausherr, zwischenzeitlich von Abmahnungen der Kultursenatorin bedroht, ruhig weiter Sparkonzepte realisieren, gerade auch in der Oper. Mario Nitsche