Ein flimmerndes Spielzeug der Moderne

■ Die Wirkung der Spiele ist bislang kaum untersucht/ Keine Selbsthilfegruppen in Berlin

Berlin. Vor gut drei Wochen erhielt Katarina Vukovic den Anruf einer verzweifelten Ehefrau. Ihr Mann, so erzählte die Unbekannte, sitze bis weit in die Nacht hinein vor seinem Computer. Sie habe Angst, daß die Beziehung in die Brüche gehe, wenn er nicht bald zur Besinnung komme. Ob es denn in Berlin keine Initiative für Computersüchtige gebe? Zu ihrem Bedauern konnte Vukovic, Gesundheitsberaterin der „Selbsthilfe Kontakt- und Informationstelle“ (SEKIS), der Ehefrau nicht weiterhelfen. In Berlin, so fand sie heraus, gibt es keinen einzigen Zusammenschluß von Video- oder Computersüchtigen. Die 35jährige erklärt sich den Mißstand mit der gesellschaftlichen Akzeptanz von Computern. Aus Erfahrungen mit abhängigen Geldspielern wisse sie, daß viele Betroffene „sehr lange brauchen, um sich zu ihrer nichtstofflichen Sucht zu bekennen“.

Auch in der Forschung ist die Frage, ob und wieweit Computerspiele süchtig machen, bisher weitgehend unterbelichtet. Populärwissenschaftliche Berichte sind zwar in der Presse zuhauf publiziert worden – ernsthafte empirische Belege fehlen jedoch. Seit einem halben Jahr läuft nun in Westdeutschland ein großangelegtes Gemeinschaftsprojekt der Universitäten Bochum und Dortmund und der Fachhochschulen Köln und Dortmund über die „Motivation von Kindern und Jugendlichen bei Video- und Computerspielen“. Erste Untersuchungsergebnisse sollen 1994 vorgelegt werden. Professor Rainer Korte (49), Erziehungswissenschaftler an der Fachhochschule in Dortmund, hält den Aufschrei über Gefahren für „weitgehend übertrieben“. Der Leiter der seit 1984 bestehenden „Arbeitsstelle für Spielforschung und Spielberatung“ verweist auf die Kritik an industriell gefertigten Spielwaren, die schon im vergangenen Jahrhundert üblich war. So schrieb etwa ein Pädagoge 1855: „Unsere Industrie hat schädlich auf die Spiellust der Kinder gewirkt, indem sie den Spielapparat verhundertfacht, die Spielsachen verkünstelt und dergestalt herausgeputzt hat, daß sie nicht mehr Mittel für die Kinderphantasie, sondern an sich schon Gegenstand des materiellen Genusses ist.“ Von solchen Theorien, die mit jeder Neuerung sogleich den Untergang des Abendlandes heraufbeschwören, hält Korte nicht viel. Das sinnvoll angewandte Computer- und Videospiel sei keine „Gefahr für den Homo sapiens“, sondern eine „Erweiterung und Bereicherung menschlicher Spielmöglichkeiten im Zeitalter der Elektronik“. Daß Computerspiele zur Isolation, gar zu Autismus führen können, ist für Korte eine „schlichte Behauptung“. Untersuchungen hätten im Gegenteil gezeigt, daß Kinder einen regen Austausch über die neu erworbenen Elektronikspiele unterhalten. Sein Rat an Eltern: Keine Verteufelungsstrategie betreiben, sondern Kenntnisse über die Spiele erwerben.

Auch das Bundesgesundheitsamt (BGA) empfahl erst kürzlich, den Kindern den „vernünftigen Umgang“ mit Videospielen beizubringen. So sollte die Spielzeit beschränkt und den Kindern regelmäßige Pausen verordnet werden. Zum Gang an die Öffentlichkeit sah sich das BGA gezwungen, nachdem eine Meldung aus England für Wirbel gesorgt hatte, die von einem Epilepsieanfall beim Computerspiel berichtete. Eine generelle Gefährdung durch Computerspiele kann das BGA jedoch nicht erkennen: bei einigen Menschen, die eine erbliche Veranlagung zur „Photosensibilität“ haben, könnten tatsächlich Krampfanfälle durch die Lichtreize ausgelöst werden – doch genauso sei dies durch flimmernde Fernsehbilder, intensiv spiegelnde Wasseroberflächen, glitzernde Schnee- und Eisflächen möglich.

Der Ostberliner Berater für Computerspiele Thomas Dlugaiczyk (29) vom „Förderverein für Jugend- und Sozialarbeit“ sieht vielmehr gesellschaftliche Ursachen, die Kinder dem Computer vollständig ausliefern. „Dreh- und Angelpunkt“ sei das Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern. Seine Beobachtungen in der Hellersdorfer Medienwerkstatt „Helliwood“ haben ihm gezeigt, daß gerade solche Kinder stundenlang vor dem Bildschirm sitzen, deren Väter und Mütter „sie mit dem Computerspiel einfach nur ruhigstellen wollen“. Severin Weiland