Abenteuerwelt aus Flüssigkristallen

■ Dieses Jahr soll mit mehr als 50 Millionen Mark für den „Gameboy“ geworben werden/ Kinder sind bereits süchtig – jetzt kommen die Erwachsenen an die Reihe

Berlin. Es ist nicht herauszubekommen, wie viele Computerspiele und Spielekassetten täglich in Berlin verkauft werden. Inzwischen kennt ihn aber jeder – den sogenannten „Gameboy“. Der Name des batteriebetriebenen Spielcomputers genügt, um beim Telefonieren mit der Industrie und Handelskammer den Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung in Rage zu bringen. „Ich hasse ihn“, brüllt die Sekretärin. Sie hat guten Grund dafür. Denn neuerdings muß sie alleine frühstücken, weil ihre 18jährige Tochter Constanze statt zum Gelee zum Gameboy greift.

800 Millionen Mark hat Nintendo, größter Anbieter von Spielecomputern für die Hand und für den Fernseher, im vergangenen Jahr in der Bundesrepublik einkassiert. 50 Millionen Mark hat sich der japanische Konzern die Werbung kosten lassen – „die größte Werbepower, die je in Deutschland für ein Spielzeug eingesetzt wurde“, wie es in einer Broschüre heißt. Dem Unternehmenssprecher Thomas Schaefers ist nicht bekannt, ob darin die Kosten für den Nintendo-Club enthalten sind, der alle zwei Monate in die Briefkästen von einer Million Mitgliedern das neueste Clubheft flattern läßt. Er weiß allerdings, daß in diesem Jahr in die Werbung für den Spielkameraden aus dem Kaufhaus noch weit mehr als 50 Millionen Mark gesteckt werden sollen.

Die Sekretärin der Handelskammer kann sich noch glücklich schätzen, auch wenn sie jetzt häufig alleine vor dem Frühstücksei sitzen muß. Denn ihre Tochter geht trotz Gameboy weiterhin in die Schule. Fritz Peer, Propagandist im Kaufhof am Alex, berichtet der taz, daß Neunjährige vor den Fernseher mit der Spielkonsole rennen, sobald das Warenhaus seine Türen öffnet. „Klar, daß die die Schule schwänzen“, sagt der 21jährige Verkäufer. Die Eltern seien aber nicht aufgetaucht, nie habe sich jemand nach den Kindern erkundigt. Am Anfang habe er den Fernseher des öfteren ausgeschaltet, doch dann seien die Kids einfach in andere Kaufhäuser gegangen. Jetzt läuft das Videogame ununterbrochen.

Am vergangenen Mittwoch flimmerte „Streetfighter II“ über den Bildschirm. Zwei Spieler können auf der Mattscheibe Phantasiefiguren gegeneinander Kung-Fu kämpfen lassen. Am Nachmittag lümmelt sich eine Traube von zwölf Jungs im Alter zwischen acht und 16 Jahren vor dem Gerät herum – und natürlich gibt es Ärger, weil die zwei ältesten die Bedienpulte nicht verlassen wollen. Einer der beiden, der vom Spielen überhaupt nicht loszukommen schien, gesteht dem taz-Reporter, daß er dasselbe Spiel zu Hause habe. „Aber was soll ich denn dort“, sagt er und erzählt, daß er immer nach der Arbeit hierherkommt. Propagandist Peer bestätigt, daß zu jeder Tageszeit eine Gruppe Knirpse gebannt vor dem Gerät steht – ob wie jetzt Schulferien sind oder nicht, mache keinen Unterschied.

Anita Preuß, stellvertretende Abteilungsleiterin im Nobel-Kaufhaus KaDeWe hat dieselben Probleme. Wenn die 53jährige die Dreikäsehochs frage, ob sie keine Schule haben, verdrückten die sich allerdings schnell. Kindern ab zehn Jahren müsse sie aber schon deutlich sagen, „das ist hier keine Spielhalle“. Im Gegensatz zur Kaufhalle am Alex sei bei ihr in den Ferien mehr Betrieb – erst recht wenn es draußen kalt sei. Doch dort wie hier haben sich Eltern angewöhnt, ihre Nachkömmlinge bei den elektronischen Spielen „abzugeben“, damit sie selbst ungestört einkaufen gehen können.

Inzwischen sind es aber nicht nur mehr Kinder, die von der Spielsucht ergriffen sind. Bernhard Bock, Vertriebsleiter bei der Berliner Morgenpost, wirbt neue Abonennten nicht nur mit dem 150 Mark teuren Gerät, er selbst spielt damit. Vor zwei Jahren hatte der heute 40jährige erstmals versucht, mit dem Gameboy seines Neffen Punkte zu sammeln. Daraufhin hatte seine Familie ihm solch ein Spiel am nächsten Vatertag geschenkt. Bock liegt im Trend. Nach Untersuchungen im Auftrag von Nintendo war im vergangenen Jahr jeder zweite, der versuchte, gegen den Computer Karate zu kämpfen oder mit der Kultfigur Mario Abenteuer zu überstehen, über 18 Jahre. Und es sollen immer mehr Erwachsene werden, die der Konzern als neue Käuferschicht entdeckt.

Auch die 50jährige Doris W.* läßt Mario durch eine Phantasiewelt auf Flüssigkristall-Bildschirm springen. „Ich brauch' das, um meinen Frust abzubauen“, sagt die gelernte Kindergärtnerin. Sie war zuletzt Putzfrau – „bei der Firma“ – und ist seit drei Jahren arbeitslos. Ihre 12jährige Tochter Ines ist Halbwaise, und beide zusammen müssen im Monat mit wenigen hundert Mark auskommen. Das einzige, was sie sich davon leisten würden, seien neue Spielmodule für den Gameboy, die zwischen 50 und 80 Mark kosten. Wenn sie nicht mehr könne, dann lasse sie die Kultfigur Mario über braune Koffer mit Fragezeichen hüpfen, aus denen Schildkröten zur Belohnung krabbeln. Mario ist der „Held“ bei Nintendo und auch wenn er in tiefe Gruben fällt oder von bösartigen Vögeln aufgefressen wird, geht das Spiel aufs neue los. Wie im wahren Leben: Wer eine Hürde nicht zu schaffen vermag, muß eben von vorn anfangen. Dirk Wildt

*Name der Redaktion bekannt