■ Neuer Stoff für blutdurstige Briten: „Real-Life Crimes“, die wahrheitsgetreue Horror-Kollektion
: Die Berufsgruppe der Serienkiller und Hammermörder

London (taz) – Es war 3.36 Uhr am Morgen des 7.August 1985, als das Telefon in der Vermittlung der Polizeistation von Chelmsford, Essex, surrte. Ein verängstigter junger Mann, der Farmerssohn Jeremy Bamber, flehte um Hilfe: „Mein Vater hat mich gerade angerufen. Meine Schwester ist durchgedreht – und sie hat ein Gewehr... “ Wenn das mal gutgeht!

Nicht auszudenken, wie diese Geschichte enden wird. Nicht etwa, daß sie aus der Feder einer Agatha Christie oder eines Sir Arthur Conan Doyle geflossen wäre – nein: ihr Autor war das richtige Leben, das ja bekanntlich die schönsten Geschichten schreibt. Und sind sie nicht erst richtig schön, wenn sie einen dramatischen, blutrünstigen Ausgang versprechen? EinE waschechteR EngländerIn wäre nicht einE waschechteR EngländerIn, wenn sie/er in diesem Punkt nicht zustimmen würde. Denn gibt es eine Sache, die im Land der geistigen Mütter und Väter von Hercule Poirot und Sherlock Holmes den gleichen Stellenwert einnimmt wie das tägliche Wetter (was eigentlich kaum zu schaffen ist), und das sind Sex and Crime. Während für ersteres dank des eigenen Königshauses ja zur Genüge gesorgt ist, sind – natürlich neben den KillerInnen selbst – besonders die Medien gefragt, um auch dem anderen Bedürfnis gerecht zu werden. Sie tun, was sie können. Angefangen bei den regionalen Nachrichten, in denen es wenig verwundern würde, wenn sie eines Tages mit der grausamen Entführung von Nachbars Hamster aufgemacht würden, bis zu einer Flut heißbegehrter Serien à la „True Crimes“ oder „Murder in Mind“, mit denen sich farblose Hilf-mit-Präsentationen eines soliden Ede Zimmermann einfach nicht messen können. Da Spielfilme aus den Fünfzigern ob ihrer unsittlichen Bettszenen auf spätere Sendetermine verbannt sind (Jugendschutz wird großgeschrieben), kann eben vor 21Uhr die Berufsgruppe der Serienkiller und Hammermörder auf der Mattscheibe so richtig zuschlagen. In keiner Krimi-Abteilung größerer Buchläden fehlt der Wühltisch mit den gesammelten Höhepunkten der aufregendsten Gewaltverbrechen und Mörder-Jahrbücher zum Sonderpreis. Und in den Zeitungsläden trieft – wie man weiß – genügend Blut aus täglichen Schlagzeilen.

Wirklich genügend? Einige geschäftstüchtige Medienleute sind da ganz anderer Meinung. Die Nachfrage der blutdürstigen LeserInnenschaft, finden Sie, sollte mit einer entsprechenden Dosis befriedigt werden. Seit Jahresbeginn versucht sich der Londoner Verlag Midsummer Books daher mit einem brandneuen Magazin auf dem Markt. Real-Life Crimes heißt die wahrheitsgetreue Horror-Kollektion, die in ihrer Anlaufphase zunächst 30.000 BritInnen wöchentlich ihre gebührenden Schauer über die Rücken jagt. Auf satten 50 farbigen Seiten – mit vielen bunten Fotos – garantieren Serienkiller, Kindermörder und verrückte Bombenleger mehr als eine Gänsehaut.

Und eben dieses Killer-Magazin ist es, das offenbart, was es tatsächlich mit dem Hilferuf auf der Chelmsforder Polizeiwache auf sich hat. Wer will, braucht nur umzublättern: „Jeremys dunkles Geheimnis“, springt es einem da blutrot entgegen. Es soll nicht länger eines bleiben: „In den frühen Morgenstunden des 7.August, als die Familie noch schlief, machte sich Bamber auf den Weg zum Haus seiner Eltern... “ Nicht nur das Familienmassaker, das er dann anrichtet, sondern auch, wie es ans Licht kam, können die LeserInnen hier minutiös nachvollziehen. Gerade darin sehen Herausgeberin Trisha Palmer und ihr Kollege Chris Bishop das Erfolgsgeheimnis ihres Grusel-Konzentrats. Palmer verrät es: „Es gab schon andere Magazine, die konzentrierten sich lediglich auf bestimmte Morde. Wir versuchen, auch den Spuren detailliert nachzugehen.“ Gewiß, das kann man sagen. Zu der unterhaltsamen Schnitzeljagd auf der „Straße zum Mord“ gehört der Vergleich der Größe der Einschußlöcher in den Köpfen der Opfer mit den entsprechenden Projektilen ebenso wie die Untersuchung der Blutreste am Schalldämpfer der halbautomatischen „Anschutz“ (ausgerechnet made in Germany!).

Schließlich, davon ist die Herausgeberin überzeugt, könne ihre Leserschaft dabei auch eine Menge lernen. Die Überreste seiner ermordeten und zerstückelten Adoptivtochter beispielsweise, die ein „Zahnarzt des Todes“ auf Seite 44 unvorsichtigerweise in seinen Blumentöpfen verscharrt hatte, vermag selbst jeder noch so ungebildete Laie nach der Lektüre dem menschlichen Körper zuzuordnen. Bunte Skizzen und gerichtsmedizinische Aufnahmen helfen dabei. Ganz zu schweigen von den farbigen Fotos über die Verwesungsstadien eines Körpers – vielleicht gerade die richtige Lektüre, um bei Steak-und-Nieren-Pudding am flackernden Kaminfeuer auszuspannen.

Wer, stellt sich die Frage, soll so etwas lesen? „Unsere Hauptleserschaft besteht aus Frauen zwischen 20 und 30“, weiß Trisha Palmer. „Doch alle Käufer sind Leute mit ganz normalen Interessen – menschlichen eben.“ Es menschelt also wieder einmal. Und da der Sammlertrieb offenbar auch eine äußerst humane Sache ist, liefern die Menschenkenner den entsprechenden Pappordner zu ihrem Heft gleich kostenlos mit. Da können die Ausgaben dann alle der Reihe nach eingeheftet werden. Fertig ist das Nachschlagewerk. Übrigens können auch KillerInnen daraus profitieren, indem sie aus den Fehlern ihrer KollegInnen lernen. Die Art, auf die der „Zahnarzt des Todes“ sein Opfer verschwinden lassen wollte, konnte nämlich gar nicht klappen, erfahren sie hier. Und selbstverständlich auch, warum und wie man es besser machen kann. Bleibt ein Trost: Die Entsorgung des Magazins dürfte weniger problematisch sein als die menschlicher Knochen. Antje Passenheim