Unter Pilgern in Indien

In die südindischen Tempelstädten Mandurai und Rameswaram strömen die gläubigen Hindus – doch der Tourismus geht als Auswirkung des Bürgerkriegs in Sri Lanka zurück  ■ Von Maria Nicolini

Madurai (Madura)

Der Name bedeutet: Stadt der Süße. In der Morgendämmerung in dieser Stadt, einer von Indiens sieben heiligen Städten, anzukommen ist eine süße, aber eine schockierend schöne, grandiose, geheimnisvolle oder magische Erfahrung. Gemeinplätze müssen zur Beschreibung des Ereignisses herhalten.

Eine Vielzahl grauer, teils parabolisch gekrümmter Türme ragt in den Himmel, darunter die vier Tortürme, die Gopuram nach Norden, Osten, Süden und Westen. Eine goldene Kuppel, die rot-weißen Bänder der äußeren Mauer, das Wirrwarr der Häuser, die den Tempel umgeben, die Straßen, die, einem Spinnennetz ähnlich, auf das Zentrum zuführen, das noch nächtliche Summen, das allmählich in eine Kakophonie von Geräuschen übergeht – es ist, als kreise oder fließe alles auf diesen Mittelpunkt zu, auf die Stadt in der Stadt.

Die Stadt wurde zwischen dem 12. und 17. Jahrhundert von den Herrschergeschlechtern der Pandyas, Cholas und Nayak errichtet. Der Legende zufolge wurde Meenakshi, eine Inkarnation der göttlichen Shakti, als Tochter eines Pandya-Herrschers geboren und wie ein Prinz in der Kriegführung ausgebildet. Ihr Körper war mit drei Brüsten augestattet, und es war geweissagt worden, daß die anatomische Besonderheit in dem Moment verschwinden würde, wo sie ihrem zukünftigen Gatten gegenüberstünde.

Da sie eine große Kämpferin war, drang sie eines Tages bis zur Wohnstätte Sivas vor, eine Brust verschwand, Siva wurde zum Gemahl, die beiden regierten Madurai eine Zeitlang, doch dann übergaben sie die Geschäfte einem männlichen Nachfahren und setzten sich in göttliche Gefilde ab.

So menschlich, wie es in dieser Geschichte zugeht, residieren die Gottheiten Siva und Meenakshi nun im Tempel: mit Schlafzimmer, Sommerresidenz und Hochzeitsraum und, da Großfamilien die Regel sind, in Gesellschaft Ganeeshas und Subramanhas, die als ihre Kinder gelten. Auch Nandi, dem göttlichen Stier, sind verschiedene Plätze der Anlage vorbehalten, und Kali ist zugegen, die Zornige, die Nonkonformistin unter den Hindugottheiten in ihrer Funktion als Sivas weiblicher Entsprechung. Das klingt so verwirrend, weil ein und dieselbe Gottheit oft in verschiedenen Aspekten dargestellt und verehrt wird, zum Beispiel Siva einmal als Ehemann Meenakshis oder Parvatis und ordentlicher Familienvater und ein anderes Mal im Verbund mit der großen, mächtigen Kali in dem ihm eigenen ungezügelten Aspekt. Ob Familienvater, kosmischer Tänzer oder weltentrückter, wilder Asket, Hauptsache, jeder Gläubige findet eine Figur, die er verehren oder mit der er sich identifizieren kann.

Madurai oder auch Madura, Stadt der ununterbrochenen Bewegung: von morgens um fünf bis in die Nacht hinein fluten die Scharen der Pilger in den Tempel. Sie kommen in girlandengeschmückten Bussen, in Taxis, Rikschas, Eselkarren oder zu Fuß vor einem der Gopuram an, mit einem Stapel Opfergaben auf dem Kopf und in freudiger Erwartung. Wenn nicht gerade eins der Tempelfeste stattfindet, während derer Tag und Nacht gebetet, geopfert und rezitiert wird und religiöse Ekstase sich ausbreiten kann, scheint es, als statteten die Menschen den Gottheiten einen gut vorbereiteten Besuch ab – wie respektgebietenden Verwandten.

Draußen in North, South, East oder West Chitral oder in North, South, East oder West Avani Street sowie in allen übrigen Straßen in der Nähe der Tempelanlage herrscht derweilen ein ganz und gar weltliches Chaos. Schlepper und Aufreißer, Bettler und Taxifahrer stürzen sich auf ausländische TouristInnen mit ihrer kaufkraftverheißenden Physiognomie: „Come, see my shop, take Riksha, want tailor“ und immer wieder, „want Marihuana“. Im Verein mit ambulanten Kurzwarenhändlern sitzen in der Nethaji Road die Schneider hinter handbetriebenen Nähmaschinen auf dem Gehsteig, im Schneidersitz, versteht sich. Ein junger Mann, schön und unschuldig wie Jesus auf den Heiligenbildchen. Er hat einige Garnröllchen und Knöpfe vor sich ausgebreitet.

Die ebenfalls allgegenwärtige Werbung widmet sich der Erzeugung von Konsumwünschen: ein adretter junger Mann wirbt für „Climax“-Herrenoberhemden, eine Zigarettenfirma zeigt ein junges, lesendes Paar im Bett, Titel des Buches: „Polnische Witze“. Vermutlich wissen nur Inder, was dieser Titel signalisiert. Unterschrift auf dem Plakat: „Ein perfektes Paar“. Slogan einer Versicherungsfirma: „Lebensversicherung – Liebe auf ewig“.

Das Kino, das zwischen Bahnstation und Busbahnhof liegt, spielt den Streifen „Nothing underneath“, die Ordnungskräfte lassen groß und unübersehbar wissen: „Die Stadtpolizei von Madurai heißt Sie willkommen“, und vor dem Betreten der Bahnhofshalle ergeht die Aufforderung: „Laßt uns die neu gestaltete Bahnstation sauberhalten.“

In Madurai findet eine Parteiversammlung der OMK, der tamilischen Regionalpartei, statt. Das Symbol der Partei, in der es Kräfte gibt, die die Unabhängigkeit Tamil Nadus anstreben, besteht in einer aufgehenden Sonne. Den Parteivorsitz führt der gestürzte Ministerpräsident von Tamil Nadu, ein ehemaliges Mitglied der regierenden Congress-Partei. Zu offensichtlich waren seine Kontakte zur LTTE, der tamilischen Untergrundbewegung, die im Norden Sri Lankas operiert, obwohl die Congress-Partei noch vor ein paar Jahren diese Kontakte gutgeheißen hatte. Doch mit Rajiv Gandhi änderte sich das, und seit seiner Ermordung durch die LTTE ist die Unterstützung der tamilischen Rebellen völlig out.

An diesem Wochenende fehlt es der OMK weder an Anhängern noch an Begeisterung. Überall werden Fähnchen geschwenkt, es gibt Triumphbögen aus Pappe und ein ohrenbetäubendes Hämmern von Lautsprecherparolen, die sich mit dem alltäglichen Klingeln, Hupen, Quietschen, Schreien, Hufeklappern und Motorenlärm vermischen. Die Bahnhofshalle ist der stillste und sauberste öffentliche Platz.

Die Schlaf- und Liegewagenplätze in allen Zügen in alle Himmelsrichtungen sind ausgebucht, aber es gibt den Passenger-Train nach Rameswaram mit freien Sitzplätzen, ein Bummelzug mit längerem Aufenthalt in allen Bahnhöfen, der 160 Kilometer in fünfeinhalb Nachtstunden zurücklegen wird.

Ankunft in Rameswaram. Am siebten der 22 Brunnen, derentwegen der Tempel Berühmtheit erlangt hat, drängeln sich die Pilger. Trotz des kühlen Dezembermorgens werden sie mit Eimerladungen Wasser übergossen, was erklärt, warum einige der männlichen Passagiere des Nachtzugs mit auffallend kurzen Turnhosen bekleidet gewesen waren. Der in abenteuerlichem Englisch verfaßte Tempelführer informiert über die heilenden und reinigenden Wirkungen des Brunnenwassers. Die kleine, müde Gruppe der Pilger friert erbärmlich, doch tapfer und entschlossen schreitet sie weiter zum nächsten Theeram. Kein Wunder, daß die meisten, nachdem sie diese Strapaze auf sich genommen haben, Rameswaram gleich wieder verlassen.

Dem Epos Ramayama zufolge hatte sich Held Rama mit Hanumans Hilfe von hier nach Sri Lanka begeben, um Sita, seine Gemahlin, aus den Händen König Ravanas zu erretten. Nach gelungener Befreiung bat er Hanuman, den getreuen Gefolgsmann in Affengestalt, einen Lingam vom Berg Kailash, Sivas Wohnstatt, zu holen. Ein Stein in Lingam-Form, Sivas Symbol, dünkte ihn ein geeignetes Mittel, die Ermordung Ravanas zu sühnen. Da Hanumans Rückkehr sich hinauszog, lieferte Sita einen Lingam aus Sand, der sich vom enttäuschten und verärgerten Hanuman nach seiner Rückkehr nicht entfernen ließ. Deshalb gibt es im Tempel zwei Lingams, so die Erklärung, doch dem von Hanuman gebrachten solle, laut Ramas Verdikt, zuerst geopfert werden.

Die Mehrzahl indischer Frauen hinduistischen Glaubens identifiziert sich mit Sita, der Gemahlin Ramas. Das Eheleben der beiden könnte einer indischen Seifenoper entnommen sein: Rama, Sexist und Chauvinist und wie alle Helden zwanghaft um Anerkennung bemüht, muß sich zwecks Stärkung seines Selbstwertgefühls an seiner Ehefrau schadlos halten. Er verdächtigt Sita immer wieder des Ehebruchs, verleugnet und vernachlässigt sie nach Kräften und läßt sie, obwohl er schon von ihrer Unschuld überzeugt ist, auch noch eine Feuerprobe überstehen. Sita erträgt alle Prüfungen ohne Klage und unbeschadet – schließlich ist sie von göttlicher Natur, liebt ihren Rama unermüdlich und selbstlos, zweifelt nie an seiner Überlegenheit und sucht die Gründe für Ramas scheußliches Verhalten ausschließlich bei sich selber.

Auch wo Religion und nationale Identität, Religion und aggressiver Chauvinismus miteinander verbunden werden, muß Rama als Alibi herhalten, wie kürzlich bei der Zerstörung der Moschee im nordindischen Ayodhya.

Fischer sei er, Reiseführer und Rikschafahrer, sagt Anand, als er seine Dienste anbietet. Zur Zeit gäbe es nur fünf AusländerInnen in Rameswaram. Er erzählt von seinem Freund Klaus aus Köln, der fünf Monate in einer Fischerhütte unten am Strand gewohnt habe. Auch in Italien und der Schweiz hat Anand Freunde. Ob sie jemals wiederkämen? Das weiß er nicht. Ob sie ihm schon einmal geschrieben hätten? Nein, das nicht. Er hat sie zu den Korallenbänken hinausgefahren und ihnen Haschisch besorgt, wenn sie danach verlangten. Auch nach Danuschkodi hat er sie gebracht, dem letzten, sandigen Zipfel der Insel, der von Sri Lanka nur 18 Kilometer entfernt ist. Hier legten früher die Fährschiffe an. Doch seitdem der Fährverkehr wegen des Bürgerkriegs im Norden von Sri Lanka eingestellt wurde, ist es in Rameswaram still geworden und arm. Das japanische Mädchen, das sechs Monate mit Anand zusammenlebte, wird vielleicht wiederkommen, aber die besseren Zeiten, in denen der Tourismus blühte, der neben dem Fischfang die einzige Einnahmequelle der Bevölkerung war, sind dahin. Selbst das staatliche Tamil Nadu Hotel ist nicht mehr als eine Baracke. Anand erinnert sich an frühere Zeiten, und das sei schlimmer, meint er, als Besseres nicht erfahren zu haben.