Zum Tyrannen wird man erzogen

Wolfgang Engel inszeniert am Berliner Schiller Theater Jean Racines Tragödie „Britannicus“  ■ Von Sabine Seifert

Böse sein ist anstrengend. So heißt es in einem kleinen Gedicht vom armen B. B., der es wissen muß, weil er schließlich selbst ein alter Flegel war. Ist deshalb das Böse so viel interessanter als das Gute, das langweilig scheint wie ein glatt rasierter Jüngling mit weichem Händedruck, der einem eben keinen Eindruck macht, nicht gut und nicht schlecht? Die Guten haben ohnehin Recht. Unschuldslämmer von Geburt an. Kein Wunder, daß in „Britannicus“, der 1669 uraufgeführten Tragödie von Jean Racine, der Titelheld zur Nebenfigur wird. Denn böse werden ist eben viel anstrengender als gut bleiben.

So also rückt Nero ins Zentrum des Geschehens. „Wir sehen, worin hier die Aktivität eines Tagesablaufs in der Tragödie besteht“, schreibt Roland Barthes über das Stück, „er wird das Gute vom Bösen trennen, und er hat die Feierlichkeit eines chemischen Experiments oder eines Schöpfungsaktes: das Licht wird sich von der Finsternis scheiden; und so wie ein Farbstoff die Substanz, mit der er in Berührung kommt, mit einem Schlag purpurrot färbt oder sich verdunkeln läßt, so wird in Nero das Böse in Erscheinung treten.“ Barthes nennt es die „Geburt eines Ungeheuers“.

Das Stück des französischen Dichters, Vorlesers und späteren königlichen Geschichtsschreibers Jean Racine (1639 bis 1699), ein Zeitgenosse Corneilles und Molières, ist streng gebaut. Die äußerlich bewegte Geschichte wird in innerlich bewegte Sprachbilder verpackt. Das Böse – beispielsweise den Giftmord an Britannicus – sieht man nicht, es wird berichtet. Auch die Beschränkung der Personen auf einen inneren Kreis entspricht der rigorosen poetischen Form. Das klassizistische französische Versmaß, der Alexandriner, ist schwer ins Deutsche zu übertragen. Die Neuübersetzung Simon Werles, die jetzt zum ersten Mal an einer deutschen Bühne gespielt wird, hat sich deshalb davon auch ganz gelöst. Und so wie im französischen Nationaldrama die antiken Helden im Barockkostüm des 17.Jahrhunderts spielten, läßt auch der Regisseur Wolfgang Engel in seiner Inszenierung am Berliner Schiller Theater die Personen des Stücks andere Epochen als gerade die römische verkörpern. Er konzentriert sich auf die (ewig gleichen?) psychologischen Muster, die der Dichter in seiner Tragödie konstatiert. Bei Engel erscheint sie mal in Gestalt eines bürgerlichen Trauerspiels, mal als psychologisches Kammerspiel.

Man stelle sich das Stück in einer symmetrischen Anlage vor. Die Mittelachse wird von den Stiefbrüdern Nero und Britannicus eingenommen, ihnen zur Seite stehen die Erzieher Narcissus und Burrus. Oberhalb, als eine Art gemeinschaftliches Über-Ich, postiert sich Agrippina und waltet über das Geschick ihrer Söhne. Die gemeinsame Mutter hat Britannicus zugunsten Neros um den Thron gebracht. Verkörpern das Paar Nero/ Narcissus das Böse und Britannicus/ Burrus das Gute, so ist der Mutter Natur die Falschheit, die Machtgier, die Doppelzüngigkeit, die Unaufrichtigkeit. Ihre weibliche, jedoch positive Entsprechung findet Agrippina in Junia, der nur einmal die Verstellung gelingt – als es darum geht, Britannicus vor seinem Bruder zu schützen. Junia, die sich außerhalb des Kräfteschemas im römisch-kaiserlichen Hause bewegt, führt Nero in Versuchung: zum Guten wie zum Bösen. Er liebt Junia – oder meint, sie zu lieben. Aber Junia liebt nunmal Britannicus und der liebt sie, so daß es mit der Versuchung Neros zum Guten (der Liebe) ein böses Ende (den Brudermord) nehmen muß. Junia aber flieht zu den Vestalinnen.

Man weiß aus der Geschichte, daß Nero später auch seine Mutter umbringen, ja ganz Rom abfackeln ließ. In Racines Stück ist er gerade erst drei Jahre an der Macht. Zum Tyrannen wird man nicht geboren, zum Tyrannen wird man gemacht. Schuld daran: die Mutter, meint der Dichter. Nun ist diese Erkenntnis nicht gerade neu. Aber, so wird Barthes im Programmheft zitiert, das Stück „ist nicht die Darstellung eines Resultats, sondern eines Vorgangs. Der Akzent liegt hier wirklich auf dem Tun.“ Nero als ein von Minderwertigkeitskomplexen gequältes Müttersöhnchen, das zum Befreiungsschlag ausholt.

Während Britannicus (Jürgen Elbers) als blasser feiner Pinkel im hellen Sommeranzug mit Seidenschal daherkommt, der seinem Stiefbruder nicht genügend mißtraut, weil er sich seiner selbst zu sicher ist, macht Sylvester Groth aus Nero einen biegsamen, gequälten, aber hinterlistigen Charakter. Insgesamt zwei doch ziemlich wachsweiche Gestalten, die sich neben ihren Erziehern mit dem militärisch gestählten Rückgrat recht seltsam ausnehmen. Gerade Burrus (Ulrich Noethen) ist ein Pädagoge und Soldat mit altmodischem Ehrbegriff, Typ: Lateinlehrer mit seltsamen Gemeinschaftsidealen. Narcissus (Herbert Rhom) kehrt dagegen den eloquenten Karrieristen und bedingungslosen Opportunisten hervor.

Wolfgangs Engels Inszenierung beginnt karg und ohne Mätzchen vor einigen schwarzen verschiebbaren Wänden, die später den Blick auf ein eher einfallsloses Bühnenbild freigeben. Es ist älteren Gemälden nachempfunden: Tempelsäulen vor antiker Mittelmeerlandschaft. Nero hat Junia (Wiebke Frost als toughes Girl von heute) in seinen Palast entführt; der Mutter weicht er aus, will ihr nicht vor Augen kommen. Als die Konfrontation unausweichlich wird, sinkt er ihr gegenüber auf dem Stuhl zusammen und später – natürlich – in den Schoß. Vorher aber nippt Agrippina an einem Glas Wein, beäugt dann ihren Sohn mißtrauisch, ist sich plötzlich ganz sicher, daß der Wein vergiftet ist und hebt an zu schreien. Nero läßt sie klagen, nimmt dann selbst einen Schluck, grinst – und holt sich prompt eine Ohrfeige.

Die Angst vor ihrem Sohn untergräbt Agrippinas Macht, auch wenn sie noch immer meint, mit einem „Genug, ich sprach“ die Meinungsverschiedenheiten aus dem Wege räumen zu können. Die Szene hat Tempo und Situationskomik. Katja Paryla spielt die machtgeile Agrippina deftig und nicht unsympathisch, eine Königinmutter, die ebenso temperamentvoll einen Gemüseladen betreiben würde. Das kichernde Spiel zwischen Mutter und Sohn ist ein krasser Widerspruch zum strengen Deklamationstheater, wie es den französischen Zeitgenossen des 17.Jahrhunderts vorgeschwebt hat. Für deutsche Zuschauer ist Racine auf diese Weise bestimmt besser goutierbar. Seine Dichtung ist dann allerdings nicht mehr hehre Dramatik, grausam und schön, sondern komisches Volkstheater – mit den Königen per du. Auch deren Probleme sind hausgemacht. Psychologische Feinheiten bleiben in der grellen Überzeichnung dieser Szene auf der Strecke.

Racine hat die Figuren seines Stückes „mit hoher Seelendramatik“ ausgestattet, wie es früher hieß. Nicht Geschichte und Weltlage werden hier verhandelt, es wird Persönlichkeitsgeschichte geschrieben. Darum suchen wir auch vergebens in dieser Inszenierung des einstigen Brechtschülers Engel nach aktuellen Verweisen oder schlicht nach Regie-Schickimicki; er hat ein ordentliches Kammerspiel inszeniert und den Komplex Muttersohn-als-Tyrann-in-der- Geschichte zum xten Mal, aber nicht erfolglos und durchaus sehenswert beackert.

Läßt man einmal das Muttersöhnchen beiseite, dann ist Nero einfach ein komplexbeladener Mann, der immer mehr Probleme bekommt, gerade wenn er meint, sie sich vom Hals zu schaffen. So muß er arbeiten, so arbeitet das Böse in ihm, das immer größere Vernichtungsschläge gegen die Umwelt erforderlich macht. Ethisch interessant, doch damit berühren wir den religionskundlichen Bereich. Wie war das noch in der Schule? An meine Lateinstunden erinnere ich mich wenig leidenschaftlich, und in Französisch und Geschichte habe ich nicht immer aufgepaßt.

Es gibt Inszenierungen, die sind nicht ganz gelungen, aber man lernt etwas. Das Theater als Schule des Lebens.

„Britannicus“ von Jean Racine. Regie: Wolfgang Engel. Bühne: Marcel Keller und Caroline Neven du Mont. Mit Katja Paryla, Sylvester Groth, Wiebke Frost, Ulrich Noethen. Schiller Theater Berlin.