■ Ökolumne: Strahlen-Realität Von Donata Riedel
Ist die Stadt Tscheljabinsk 20mal so verstrahlt wie Tschernobyl – oder nur doppelt soviel? Wieviel Fläche der Ex-Sowjetunion müßte wegen radioaktiver Verseuchung zur unbewohnbaren Zone erklärt werden: ein Fünftel oder doch eher ein Viertel? Wann stirbt die Barentssee an Plutoniumvergiftung? Explodiert ein zweiter RBMK-Reaktor zuerst im ukrainischen Tschernobyl oder im bulgarischen Kosloduj? Oder im litauischen Ignalina oder im russischen Sosnowi Bor neben der Millionenstadt St.Petersburg? Fest steht: Die Strahlen-Realität Osteuropas heute übertrifft auch die pessimistischsten Horrorszenarien aus der Hochzeit der Anti-AKW-Bewegung.
Aber wen stört das schon ernsthaft im Westen? Vor knapp zwei Jahren haben russische Wissenschaftler bereits über die Strahlenkatastrophe berichtet, die erst jetzt, regierungsamtlich verkündet, via FAZ und Bild ins bundesdeutsche Bewußtsein sickert. Dennoch regiert in den Industrieländern business as usual – genauso wie in der Wirtschaftspolitik angesichts der völlig unterschätzten Schwierigkeiten des wirtschaftlichen Umbaus in den Sowjet- und Satellitenstaaten.
Da sammelt die Bundesregierung im Verbund mit EG und G-7 dreistellige Millionenbeträge für Reparaturen an den atomaren Zeitbomben, mit denen – wie sie selbst zugibt – die Gefahr keinesfalls beseitigt werden kann. Deutschlands Anti-AKW-Szene beugt sich tiefbewegt über Risse in Brunsbüttel und (Credo: Denn kein Atomkraftwerk kann wirklich sicher sein) recycelt alte Prognosen über Auswirkungen des Brunsbüttel-GAUs auf den Großraum Hamburg. Dabei liegt auch für Hamburg der fernere Reaktorunfall auf der Wahrscheinlichkeitsskala sehr viel näher.
Selbst ein Weltkonzern wie Siemens-KWU laviert hin und her zwischen seinem Interesse an möglichst großen Stücken vom Reparaturkuchen und der Sorge, daß beim nächsten GAU das Atomgeschäft ganz vorbei sein wird. Das Ergebnis sind Absurditäten wie diese: Siemens baut im deutsch-russisch-finnischen Joint-venture ein hochmodernes umweltfreundliches Gas- und Dampfturbinen-Kraftwerk für St.Petersburg, das die Abhängigkeit von den Schrott-AKW mindern soll. Die Russen bezahlen ihren Devisen-Anteil aus Atomstromlieferungen an Finnland. Dafür müssen natürlich die Atomreaktoren mit Höchstleistung gefahren werden, was uns dem GAU wieder ein Stück näher bringt; vor allem dann, wenn Siemens vorher die entsprechenden Reaktoren nicht einmal mit moderner Steuerungstechnik anrepariert hat.
Während also im Westen Politik, Wirtschaft und Szene auf ihrer jeweiligen Wahrnehmungsebene einfach weiter(re)agieren wie in den 80er Jahren, haben sich die Osteuropäer in ihrer Rolle zwischen Bittsteller und Erpresser komfortabel eingerichtet. Wenn den ängstlichen Deutschen die Sicherheitsstandards nicht reichten, so die Haltung der alt-neuen Verantwortlichen in Rußlands Regierung und Verwaltung, dann sollen sie doch für neue Kraftwerke zahlen. Die regierungsamtliche Bekanntgabe der Horrorzahlen macht vor diesem Hintergrund ebenso zusätzlichen Sinn wie der neue Wettbewerb der GUS-Republiken, wo die Strahlenkatastrophe denn nun am schlimmsten sei, sprich: zuerst westliches Hilfsgeld hinfließen muß.
Daß auch Siemens-Manager vor östlichen AKW- Risiken warnen, gilt in Moskaus Atomministerium ausschließlich als Auftrags-Akquise-Trick für neue fossile Kraftwerke oder AKW-Nachrüstungsequipment. Und immer vehementer erinnern Osteuropäer auf west-östlichen Wirtschaftstreffen daran, daß sie seit Jahren funktionierende Atomkraftwerke gebaut haben, ergo ihr Handwerk verstünden. Die enorme Verschwendung von Ressourcen, einschließlich der Gesundheit von Menschen und Natur, zählte und zählt dabei auf der Produktionsseite wenig – eine Tradition aus Planwirtschaftszeiten.
„Opfer sind unvermeidlich“, sagt auch heute der amtierende russische Atomminister, während er gleichzeitig in den nächsten zwei Jahren drei neue AKW ans Netz lassen will – darunter eins vom Tschernobyltyp RBMK. Russische Glasnost: Das Restrisiko ist ein Risiko, Radioaktivität, einmal freigesetzt, nicht rückholbar. Reparatur zwecklos.
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