Wie eine Treppe: ein Sockel kommt auf den anderen

■ Arbeitsplätze, die infolge eines Konjunktureinbruchs abgebaut werden, kommen auch mit einem Aufschwung nicht wieder, haben Arbeitsmarktforscher herausgefunden

Wie eine Treppe: ein Sockel kommt auf den anderen

Hysteresis kommt aus dem Altgriechischen und bedeutet die Fortdauer einer Wirkung nach Aufhören der Ursache. Hysteresis heißt das Zauberwort der Experten vom Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), wenn es um die Beschreibung der Arbeitslosigkeit in den alten Bundesländern geht. Das angesichts der aktuellen Arbeitslosenzahlen Naheliegende weist Werner Karr, Bereichsleiter für Statistik beim IAB, jedoch weit von sich. „Nein, mit Hysterie hat das nichts zu tun.“

Mit dem altgriechischen Begriff wollen die Arbeitsmarktforscher verdeutlichen, daß die Arbeitsmarktfolgen eines Konjunktureinbruchs nicht mehr durch einen nachfolgenden Aufschwung beseitigt werden. „Man muß sich das wie eine Treppe vorstellen, ein Sockel kommt auf den anderen“, veranschaulicht Karr die Erkenntnisse der Forscher des der Bundesanstalt für Arbeit direkt angegliederten Instituts. In jahrzehntelangen Prozessen seien die Arbeitslosen mehrfach durchgesiebt worden. Übrig bleiben die Schwächeren, die mit einer Vielzahl von „Risikofaktoren“ wie Alter, gesundheitlichen Problemen, langer Arbeitslosigkeit, geringer Mobilität oder unzureichender Qualifikation behaftet sind. Deren Vermittlungschancen sind minimal.

Diesen Sockel derzeit zu quantifizieren, ist Karr außerstande. Zu Zeiten der Vollbeschäftigung in den 60er Jahren habe er 100.000 betragen. „So etwas wird es aber nie wieder geben“, weist er alle Wünsche nach Vollbeschäftigung ins Reich der Träume. Ein Diskussionspapier des IAB vom Herbst vergangenen Jahres schätzte die Zahl derjenigen, die „quasi als Sockel aus den 70er Jahren verblieben waren“, bereits für Anfang der 80er Jahre auf eine Million. Seitdem sind die Arbeitslosenzahlen weit darüber gestiegen. Unter 1,6 Millionen lagen sie nur noch im Juni 1991, derzeit sind im Westen 2,25 Millionen arbeitslos.

Besonders die Branchen Stahl, High-Tech, Maschinenbau, Chemie und Kraftfahrzeugbau, bislang laut Karr die „Vorzeige- und Paradebranchen der deutschen Wirtschaft“, sind vom derzeitigen konjunkturellen Abschwung betroffen. Das trifft die jahrzehntelang prosperierenden „Südstaaten“ Bayern und Baden-Württemberg besonders stark. Die Zeiten, wo diese beiden Bundesländer mit großem Abstand auf der Sonnenseite des Arbeitsmarktes gelebt haben, sind vorbei. Der Unterschied zu den Nordstaaten verringert sich von Monat zu Monat.

Für die Umschreibung des Zustands im Osten fehlt den Arbeitsmarktforschern derzeit noch das richtige Wort. Werner Karr bevorzugt „Umstellungs- oder Anpassungsarbeitslosigkeit“. Im IAB vergleicht man den Prozeß der Umstrukturierung der ostdeutschen Berufsstruktur mit den einschneidenden Veränderungen in Westdeutschland, die die Rezession Mitte der 70er Jahre im Gefolge der Ölpreisexplosion ausgelöst hätte. Dieser Wandel, weg von Produktions-, Wartungs- und Instandhaltungstätigkeiten hin zu Dienstleistungs- und Infrastrukturaufgaben, bedeute aber „hohe Arbeitsplatzverluste und reduzierte Chancen des Wiedereinstiegs für Arbeitslose und RückkehrerInnen“.

Insgesamt, so stellt Arbeitsmarktexperte Karr fest, werde aber im Osten nach wie vor nach „dem Rasenmäherprinzip entlassen“. Die nahezu identischen, flächendeckend hohen Arbeitslosenquoten im Januar mit Ausnahme von Sachsen (13,8 Prozent), deuteten nicht gerade darauf hin, daß es auch im Osten regionale und branchenmäßig strukturierte Unterschiede gäbe. Aber gerade die Arbeitslosenquoten bieten nur wenig Hinweise auf Markttendenzen. Die Entwicklung wird zu sehr vom Einsatz arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen wie Kurzarbeit, ABM, Vorruhestands- und Fortbildungsmaßnahmen überlagert.

Im gesamten industriellen Sektor sehen die Arbeitsmarktforscher jedenfalls weiterhin keine Anzeichen für einen Aufschwung. Lediglich einzelne Fertigungsberufe wie beispielsweise Schlosser und Elektriker oder die Gästebetreuer verzeichnen deutliche Aufschwungtendenzen, ebenso wie Banken, Versicherungen, Wirtschaftsberatung und Datenverarbeitung. In einem Papier vom Mai letzten Jahres kommen die IAB- Experten zu dem Schluß, daß es schon „erheblicher Anstrengungen“ bedürfe, um „die Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern bis zum Jahr 2000 deutlich zu verringern“. Bernd Siegler