Wer Straßen sät, wird Stau ernten

Der Verkehr und die Zerstörung der Stadt (12. Folge)/ Wo Berlin lernen kann: Rhein-Ruhr-Region – nach Vorrang für den Straßenbau nun auf dem Weg zu einer verknüpften, regionalen Verkehrsstruktur  ■ Von H.-J. Rieseberg

Nirgendwo in Europa gibt es wirklich schon mustergültige Lösungen für eine zukunftsorientierte Verkehrsplanung. Obwohl Europa wesentlich später in den automobilen Individualverkehr umstieg als Amerika, ist die gesamte Verkehrskultur heute weitgehend vom Automobil geprägt. Das heißt aber nicht, daß die Mehrheit der Bevölkerung Auto fährt, sondern nur, daß eine autofahrende Minderheit einer Mehrheit ihren Willen aufzwingt. Dieses Aufzwingen des Willens geschieht aber länderweise, städteweise und regional in verschiedener Form und in einer jeweils anderen Ausprägung. Ich will deshalb versuchen, anhand positiver und negativer Beispiele die Entwicklung in Berlin in eine vergleichbare Relation zu bringen. Dabei ist zu bedenken, daß Berlin als eine Millionenstadt verkehrspolitisch immer noch in der Sonderstellung der geteilten Stadt der letzten 40 Jahre lebt, und unter dieser Sonderstellung hat vor allem die Behandlung des öffentlichen Nahverkehrs gelitten.

Auch Vergleichbares ist unvergleichbar

Von der Größenordnung her ist Berlin vergleichbar mit Madrid, Athen oder dem Rhein-Ruhr-Gebiet. Es ist nicht vergleichbar mit London, Paris und Moskau. Aber auch die anderen Vergleiche hinken, weil ein wesentliches Element der Verkehrsgestaltung der Motorisierungsgrad ist, und der ist nun wieder in den jeweils vergleichbaren Städten unvergleichbar. Schwierig wird es, wenn man die Musterlösungen, die es in Europa gibt, Bologna, Groningen, Freiburg, Erlangen oder Zürich, mit Berlin vergleicht, weil das zum Teil Städte sind, die total unterschiedliche Größenordnungen in der Zahl der Einwohner und in der Dimensionierung des Stadtgebietes haben. Mit diesen Randbedingungen muß das Folgende verstanden werden. Ich will deshalb versuchen, zunächst einmal den Vergleich mit dem Rhein-Ruhr-Gebiet zu wagen. Das Rhein-Ruhr-Gebiet hat sich im Rahmen der Bundesrepublik Deutschland zu einem Schwerpunkt der wirtschaftlichen Entwicklungen und damit gleichzeitig zu einem Schwerpunkt der Verkehrsentwicklungen in der Nachkriegszeit geformt.

Bis Mitte der siebziger Jahre wurde die gesamte verkehrliche Entwicklung auf das Automobil projiziert. Zischen Bonn im Süden und Dortmund im Norden verlaufen teilweise vier parallel gebaute Autobahnen, die durch fast nicht mehr zählbare Querverbindungen verbunden sind. Dieses überregionale Straßensystem prägt heute in diesem Raum das gesamte Verkehrsgeschehen. Diese Entwicklung hat dazu geführt, daß die Städte und Dörfer zu einem unförmigen Siedlungsbrei miteinander vermischt wurden. Die Innenstädte wurden zum Teil entvölkert und in Büro- und Handelszentren verwandelt, die Industrieanlagen der verarbeitenden Industrie entweder an den Stadtrand gedrängt oder eliminiert.

Einmalige Mischung aufgegeben

Damit wurde im Ruhrgebiet die einmalige Vermischung, die aus der Tradition der Werkssiedlungen des 19. Jahrhunderts entstanden war, aufgegeben und zugunsten von Stadtrandsiedlungen und Trabantenstädten umgewandelt. Das Ergebnis war ein immer stärkerer Mobilitätsanspruch, der immer häufiger mit dem Kraftfahrzeug befriedigt werden sollte. In den 60er Jahren wurden gewaltige zukunftsweisende Pläne mit Hochstraßen, Tiefstraßen, Garagenanlagen und allem, was dazugehört, entwickelt und zügig in die Tat umgesetzt. Hinzu kam, daß ein wesentliches Verkehrshindernis in diesem Bereich – der Rhein – nicht als eine natürliche Grenze betrachtet wurde und zu Beschränkungen führte, sondern fast als Naturkatastrophe betrachtet wurde, die mit technischen Mitteln eliminiert werden sollte. Unzählige, immer größere Brücken überspannen den Rhein, immer mehr und immer breitere Straßen beseitigten die vielen Flußauen, und an immer mehr Stellen wurde die Bebauung bis hart an die Ufer vorgeschoben.

Kurz, die Landschaft wurde nicht mehr als Lebensraum begriffen, sondern als zu bekämpfendes Element, das dem Bewegungsdrang des Menschen entgegenstand. Dasselbe, was im großen Stil mit diesem einstmals vielgelobten Fluß geschah, wurde auch mit den vielen kleinen Höhenzügen der zahlreichen Vorgebirge gemacht. Sie wurden entweder abgetragen, untertunnelt, entwaldet oder als Vorzugssiedlungen genutzt. Die Zerstörung der Nahlandschaft führte zu einer immer stärkeren Ausbreitung der Siedlung in die ferner gelegenen Gebiete, die noch landwirtschaftlich genutzt waren und nun als Siedlungsreserveland benutzt wurden. Dörfer und Städte entwickelten sich zu Regionen, zu Stadtagglomerationen. Dies wurde erst möglich durch die individuelle Erschließung der Landschaft mit dem Automobil. Hier liegen auch die Unterschiede zwischen einer Stadtzerstörung, die sich trotz allem an die Stadtgrenzen hält, also nur im Inneren der Städte wütet, und einer Regionalzerstörung, die sehr schnell die Stadt verläßt und in die Region hinausdrängt.

Natur: ein zu bekämpfendes Element

Möglich wurde dies durch die Zugriffsmöglichkeiten der jeweiligen Behörden über ihre Regionen hinaus. Das heißt, je größer Regionen, Kreise oder Bundesländer werden, um so mehr wird der Landschaftszerstörung Vorschub geleistet – ein entscheidendes Argument gegen die Vereinigung von Bundesländern. Hier wird nicht Sinnvolles gestaltet, sondern nur dem Raubbau und dem Würgegriff der Behörden Vorleistung erbracht.

Nichts kann dies besser belegen als die Rhein-Ruhr-Region. Die großen Verkehrsbauten, die den Verkehr des Jahres 2000 lösen sollten, wurden in den 60er Jahren in Angriff genommen und sind heute samt und sonders vollendet. Fast jede der rheinischen Einzelstädte Dortmund, Duisburg, Düsseldorf, Essen, Köln und Bonn hat ihren eigenen Autobahnring, fast jede Stadt hat mehr oder weniger ausgebaute Stadtautobahnen, fast jede Stadt hat heute ein Park-Leit- System und vieles andere mehr, und nirgendwo – vielleicht mit Ausnahme noch des Rhein-Main- Kreises – sind die Stauberichte im Anschluß an die Nachrichten im Rundfunk länger als dort. Das heißt, die Prognose „Wer Straßen sät, wird Verkehr und Stau ernten“ ist in dieser Region in Mitteleuropa aus meiner Sicht am besten zu beobachten. Die Straßen sind breit, gut ausgebaut, an vielen, vielen Stellen kreuzungsfrei, das Straßennetz aus Autobahnen ist dicht, und die Verknüpfung mit dem Stadtstraßennetz ist optimal, und trotzdem geht nichts mehr. Im Rhein-Ruhr-Gebiet steht alles, und es ist nichts mehr möglich, weil die zur Verfügung stehenden Flächen in der freien Landschaft, aber auch in den Städten und – so man davon noch reden kann – in den Dörfern nicht mehr ausreichen, um noch mehr Straßen unterzubringen.

Wer Straßen sät, erntet Staus

An sich hätte man diese Situation schon in den sechziger Jahren erkennen können. Man wollte sie aber nicht wahrhaben, man hat sie verdrängt und hat dann viel zu spät begonnen, ein zweites Verkehrsnetz aufzubauen, nämlich den Rhein-Ruhr-S- und Stadtbahnverbund. In dieser Region hat die S- Bahn nicht die Tradition wie zum Beispiel in Berlin, sie ist ein relativ neues, junges Verkehrsmittel und nicht als S-Bahn konzipiert worden, sondern aus der Bundesbahn heraus entwickelt worden. Eine größere Anzahl von ehemaligen Regionalanschlüssen wurde irgendwann mehr oder weniger unzusammenhängend, dann aber immer dichter zu einem S-Bahn-Netz verknüpft und verbindet heute weite Teile der Stadtregion untereinander recht optimal. Der Vorteil dieses S-Bahn-Netzes ist unter anderem auch die Ausstattung mit Bundesbahnfahrzeugen, die einen wesentlich höheren Komfort bietet, was die Federung, was die Anfahrqualität und was die Ausstattung anbelangt. Diese Schienenausstattung, die die Regionen miteinander verbindet, wurde ergänzt durch die Ausstattung mit ehemaligen Straßenbahnen in den Städten, die trotz des großflächigen Ausbaus der Straßen zu keinem Zeitpunkt aufgegeben wurden.

Trotzige Traditionshaltung

Das Straßenbahnnetz im Rhein- Ruhr-Verbund kann heute als eines der dichtesten und ausbaufähigsten in Mitteleuropa angesehen werden und dürfte die Grundlage für eine ökologische Verkehrsplanung in der Region sein und wieder werden. Obwohl die Region eine gewisse Zeit dem Automobil vieles zum Opfer gebracht hat, hat sie fast in einer trotzigen Traditionshaltung an ihren Schienensystemen weitestgehend festgehalten, diese behutsam gepflegt und ausgebaut. Sie hat sich damit für eine Zeitlang den Luxus eines doppelten Verkehrssystems geleistet und trotz der Probleme, die die Region heute hat, einen Start in ein modernes Verkehrszeitalter ermöglicht.

Es ist also denkbar, daß zum Beispiel die Rhein-Ruhr-Region, die von vielen wirtschaftlichen Krisen geschüttelt wurde – Bergbaukrise, Stahlkrise und Krise der verarbeitenden Industrie – als Dienstleistungskleingewerbe und mittelständischer Industriestandort Ausgangspunkt für eine verknüpfte regionale neue Verkehrsstruktur werden kann. Erkauft wurde allerdings dieser Vorsprung durch einen Erfahrungsschatz in Sachen Umweltzerstörung.

Wer diese Region noch gekannt hat, bevor die großen wirtschaftlichen Aufschwünge an verschiedenen Stellen einsetzten, kann sich heute nur noch mit Wehmut, ja fast mit Romantik an sie erinnern. Die Stadtkerne sind bis zur Unkenntlichkeit verändert worden, die Stadtgrundrisse und Straßenstrukturen, die teilweise bis in das Mittelalter hineinreichten, wurden nivelliert, und in den siebziger Jahren wurden Einkaufszentren als Trostpflaster angelegt, die heute mehr die Gesichtslosigkeit prägen als dem einzelnen Ort Unverwechselbarkeit geben. Und eine ehemals grüne Landschaft wurde zersiedelt, ohne den Menschen wirklich langfristigen Mobilitätskomfort einzuräumen. Denn es dürfte feststehen, daß die Leute nach dem großen Straßenausbau heute längere Arbeitswege und Verkehrswege haben als vordem, daß sie kaum noch Naherholung haben und daß ihre Freizeit- und Einkaufsmöglichkeiten in ihrer Umgebung verschwunden sind. Nicht ohne Grund ist Düsseldorf heute einer der größten Charterflughäfen in weiter Umgebung. Wenn in der Nähe keine touristischen Ziele mehr vorhanden sind, fliegt man in die Südsee oder nach Mallorca.

Landschaftsreparatur nicht möglich

Das heißt, eine Rückführung auf eine vernünftige Struktur, also eine Reparatur, eine Landschaftsreparatur ist nach einem so tiefgreifenden Eingriff nicht mehr möglich. Man kann zwar bestimmte Schäden durch einen ökologischen Nahverkehr relativieren, aber nicht mehr beseitigen. Wenn eine regionale Stadtwüste durch Zersiedlung geschaffen worden ist, läßt sie sich auch mit noch so gutem S- und Straßenbahn-Verkehr nicht mehr reparieren. Es ist ein Krebsschaden, der langfristig zum klinischen Tod solcher Siedlungsgebiete führt. Im übrigen kann man die Beobachtung machen, daß dem dort Wohnenden diese Probleme gar nicht so deutlich sind, weil eine solche Entwicklung ja nicht ruckartig kommt, sondern mit vielen Anpassungsstrategien verbunden ist. Wirklich auffallen wird es zunächst nur dem, der in längeren Zeitabständen solche Regionen besucht und untersucht.

Versucht man nun, die Erfahrungen aus dieser Region auf Berlin zu übertragen, so könnte man sagen, hier kann aus Fehlern gelernt werden. Die Zersiedlung der Umgebung Berlins beginnt gerade erst, und sie hängt wesentlich von der Verkehrserschließung ab. Das Automobil als Verkehrsträger, und zwar sowohl im Individualbereich als auch im Güterbereich, fördert die Zersiedlung und zerstört die Landschaft, und das hat es in der Region Berlin bisher noch nicht geschafft. Der S-Bahn-Verkehr und der Stadtbahnverkehr halten Siedlungen zusammen und führen zu notwendigen Konzentrationen und Schwerpunktsetzungen. Die Landschaft dazwischen wird durch strukturierte Verkehrsbänder verbunden und behält ihr Eigenleben. Das Automobil ist die Dampfwalze, und die Eisenbahn ist ein chirurgisches Besteck, das, gezielt eingesetzt, die Narben, die es schafft, wieder zum Verheilen bringt.

Diplom-Ingenieur Hans-Joachim Rieseberg beschäftigt sich mit Architektur, Stadt- und Verkehrsplanung und ist Autor mehrerer Bücher über unsere zerstörerische Lebensweise; kürzlich erschien „Arbeit bis zum Untergang“ im Raben- Verlag.

Die nächste Folge erscheint am Montag kommender Woche.