Sympathisch & schwerdepressiv

■ Prosa aus dem Gewehrlauf: Henry Rollins las in der Berliner Passionskirche aus seinem beschädigten Leben

Nicht einmal das von mildtätig flackernden Kerzen erleuchtete Mittelschiff der Berliner Passionskirche konnte ihn in seinem Zorn mäßigen. Henry Rollins meint es auf seiner „Boxed-Life“-Tour mit niemandem gut, wenn er lesend sein ziemlich beschädigtes Leben Revue passieren läßt. Bohrende, böse Geschichten. Das „Boxed Life“ hat sich für den Rockmusiker zur Metapher entwickelt, die seinen Tagesablauf zwischen Konzerthallen, Proberäumen und Aufnahmestudios zusammenfaßt: „There's no place I'd rather be“. In den sechziger Jahren hätte ihn Jack Kerouac noch mit dem euphorischen Verweis auf die unendliche Reise als Suche nach dem Sein vertröstet. Doch „on the road“ befindet sich auch der Rocker heutzutage nur noch in den Kapitalströmen, auf deren Wegen er selten einen Halt findet. Nur einmal erzählt Rollins vom Reisen in „the good old times“, als er eine wilde Busfahrt auf dem Transit zwischen Hamburg und Berlin beschreibt. Doch das ist eine sentimentale Erinnerung, während der Star mittlerweile zielgerichtet durch die Luft verfrachtet wird. Als Sänger der US-Punk-Legende Black Flag schon vor zehn Jahren an rauhe Töne gewöhnt, spricht der verschreckende Bürgerssohn, der einer zerrütteten Kleinfamilie aus WashingtonDC entstammt, mit der Offenherzigkeit eines Bauarbeiters von seinem Haß. Er versteckt sich nicht einmal hinter einer als Exil gewählten Sprache von unten, er spricht aus Erfahrung, so wie man es von einem Erzähler erwartet. Statt sich einer dunklen Last aufgestauter Bilder literarisch zu entledigen, erzählt Rollins so entwaffnend simple und unmittelbare Stories, als wollte er zu später Stunde noch ein paar verschworene Trinker zum Freund gewinnen. Das Publikum hat er schon nach einem kurzen schneidenden Seitenhieb gegen Männerphantasien auf seine Seite geholt. Doch Rollins will nicht mit dem Spiegelbild eines emanzipierten Haudegens verwechselt werden. Statt den Proletenkult eines Charles Bukowski zu geißeln, liebäugelt er eher mit der ironischen Kumpanei zu Tom Wolfe oder Hunter S. Thompson. Denn trotz der durchweg sympathischen, wenngleich schwer depressiven Geschichten von Massenmördern und anderen abgedrehten Einzelkämpfern bleibt der gestandene Neurotiker auf der Kanzel trocken und distanziert, wo sich sonst ein halbwegs als Homme de lettres gereifter Schriftsteller wohl kaum nüchtern hätte hineinversetzen mögen. Die ständig ins Mikrophon gelautmalten Bombenabwürfe wollen denn auch gar keine Literatur werden. Rollins redet sich ganz einfach Steine vom Herzen, bevor sie in der Psyche Schaden anrichten. Das unterscheidet ihn in gleichem Maße vom Belletristen wie vom potentiellen Amokläufer. Im Rap hat man für diese Art des Vortrags einen Ausdruck gefunden: Machinegun Poetry. Bei Rollins kommt Prosa aus dem Lauf der Gewehre. Harald Fricke