Auf die Selbstbeobachtung angewiesen

Der Philosoph und Religionswissenschaftler Hans Jonas ist tot  ■ Von Florian Sattler

Sein Ruhm kam spät, aber nachhaltig. Bis 1979, dem Erscheinungsjahr des 400seitigen Werks „Das Prinzip Verantwortung – Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation“ kannte den Namen Hans Jonas nur, wer über die Spätantike arbeitete, über Plotin, Paulus, Augustinus oder die Gnosis, über die Entstehungsbedingungen des Christentums aus Judentum und griechischer Philosophie. Ein unendlich gebildeter Gelehrter, den die Bücher nicht weltfremd gemacht hatten. Er war wohlinformiert zur Stelle, wenn die Ereignisse eintraten, nach denen die Epochen unseres Jahrhunderts benannt wurden. Er wußte, was es geschlagen hatte; wo andere noch rätselten und schwankten, hatte er sich längst seine Gedanken gemacht. Das war so 1933, als er nach Hitlers Machtergreifung nach England emigrierte. „Ich werde dieses Land nicht mehr betreten, es sei denn als Angehöriger einer bewaffneten Armee“, sagte er seinen deutschen Freunden, die von einem kurzen Spuk träumten oder gar ihre ersten Arrangements trafen. Das war – viel später – wieder so, als der Ölpreisschock, der Atomunfall von Harrisburg und die schreckliche Neugier der Genforscher in den siebziger Jahren das Lebensgefühl allgemein zu verändern begannen. Auf einmal verkörperte der Fortschritt nicht mehr, was er seit Galileo Galilei, Isaac Newton und Francis Bacon gewesen war. Jonas konnte die Denkbewegungen nachzeichnen und die Gründe dafür benennen, warum das Bewußtsein der ökologischen Krise kein modischer Wellenschlag ist. Um so ironischer wirkt es, daß der Titel seines Buches einem Renner aus den Sechzigern nachempfunden wurde: Ernst Blochs „Prinzip Hoffnung“, jenes Mannes, der sich noch in aller Naivität darauf gefreut hatte, daß es mit Hilfe der Atomkraft demnächst möglich sein werde, die Eisdecke Grönlands abzuschmelzen!

Schmunzelnd erinnerte der 1987 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnete Jonas im gleichen Zusammenhang daran, daß Unseld sein Buch lange im kleineren Insel Verlag versteckt hatte, ehe es als Suhrkamp-Buch erscheinen durfte, nur weil Jürgen Habermas gewarnt hatte, beim „Prinzip Verantwortung“ handle es sich um Kulturkritik von rechts. Das war ebenso ein Mißverständnis, wie es eines wäre, Jonas links zu schubladisieren, weil er wiederholt in Beschlüssen des SPD-Parteitages zitiert wird. Sein Verständnis von Philosophie und ihrer Rolle in der Gesellschaft stammte aus der Antike und aus den Seminaren der Zwischenkriegszeit: Edmund Husserl, Martin Heidegger, Rudolf Bultmann und Karl Jaspers waren seine Lehrer, die besten, die die deutsche Universität damals hatte.

Der kleine Herr aus dem Textilfabrikantenhaus, der am 10. Mai 1903 in Mönchengladbach geboren wurde, sprach die Sprache der rheinischen Bürgersleute. Die abgründige Geistspekulation bei Hegel widersprach seinem ursprünglichen common sense ebenso wie der Wissenschaftsoptimismus in den Thesen von Karl Marx. Zugleich war ihm bewußt, daß man es sich beim Nachdenken über das Denken nicht leichter machen dürfe als Platon und Kant. Der einzige Krach mit seiner lebenslangen Studienfreundin Hannah Arendt entstand aufgrund ihres Buchs „Eichmann in Jerusalem“. Jonas mißfiel nicht nur die polemische Schärfe gegen die jüdischen Opfer des Holocaust, die sich früher und energischer hätten wehren sollen, ihm mißfiel auch, daß die Philosophin sich überhaupt ins Getümmel dieses Streits begeben hatte. Dabei war auch er keineswegs ein Vertreter weltabgewandten folgenlosen Denkens. Im Gegenteil: Den Rückzug auf Erkenntnistheorie und Logik hielt er für ein schlimmes Versagen der Philosophen. Das Handeln der Menschen und dessen Folgen sind nach Jonas ein zentraler Gegenstand der Philosophie und Ethik, die philosophische Bändigung von Willkür und Leidenschaft erstreckt sich für ihn nicht nur auf die zwischenmenschlichen Beziehungen, sondern auch auf den Umgang mit der Natur. Sie ist dem Menschen nicht zur Ausbeutung überlassen, vielmehr gehört er ihr an, so daß die Verletzung ihrer Regeln und Grenzen zum Ende menschlichen Lebens auf dem Globus führen muß.

Dieses sein eigentliches Thema hatte Hans Jonas nicht am Schreibtisch oder in der Bibliothek entdeckt. Es war ihm aufgegangen beim Wacheschieben auf der zweiten Station seines Exils, in Palästina, und während der Befreiung Italiens von den Deutschen, die er als Artillerist in der jüdischen Brigade der britischen Armee mitgemacht hatte. „Da gab es keinen Handapparat. Um zu philosophieren, war ich auf die Selbstbeobachtung angewiesen. Das psychophysische Problem, die Tatsache, daß es kein Bewußtsein ohne Sitz im Organischen gibt, begann mich zu faszinieren.“ Diese frühen Einsichten mündeten in dem Buch „Organismus und Freiheit. Ansätze zu einer philosophischen Biologie“. Wie er es angekündigt hatte, betrat Jonas als Soldat in britischer Uniform 1945 deutschen Boden. Er besuchte Jaspers, Bultmann und seinen Göttinger Verleger; Heidegger dagegen nicht, weniger wegen dessen Rektoratsrede als wegen der jämmerlichen Art, mit der dieser Husserls Weggang aus der Freiburger Universität ohne einzugreifen zugeschaut hatte. Jonas erfuhr, daß die Nationalsozialisten seine Mutter in Auschwitz ermordet hatten. Sein Vater war schon 1937 gestorben.

Auch nach 1945 kannte Jonas keine akademische Muße: Er war als Wachsoldat an den Kämpfen um die Entstehung des neuen Staates Israel beteiligt. Montreal und Ottawa hießen die Stationen seiner akademischen Karriere, ehe er 1955 als Professor an die New York School for Social Research berufen wurde, eine Gründung deutscher Emigranten, unter anderem Adornos und Horkheimers. Erst seine Emeritierung 1976 ermöglichte es Jonas, in deutscher Sprache sein „Verantwortungsbuch“ zu schreiben. In den achtziger Jahren erschienen mehrere Nachfolge- und Zusatztexte. Im Rückgriff auf Forschungen aus den dreißiger Jahren beschäftigte Jonas sich auch wieder mit der Theologie, insbesondere mit der Gottesfrage nach Auschwitz. Hans Jonas wurde mit Preisen überhäuft, war ein geschätzter Redner in Universitäten und Akademien. In einer Vortragsreihe im Münchner Prinzregententheater unter dem Titel „Das Ende des Jahrhunderts“ im Mai 1992 stritt er für eine Philosophie, die sich der Aufgabe in den Dimensionen stellt, wie er selbst sie abgeschritten hatte.

Am vergangenen Freitag starb Hans Jonas in seinem Haus in New Rochelle nördlich von New York. Er hinterläßt seine Ehefrau Lore. Jonas war gerade erst von einer Preisverleihung im friaulischen Udine zurückgekehrt. In Venedig ereilte ihn eine Grippe, von der sich der 89jährige nicht mehr erholt hat. In einer Zeit der ungenauen Reden über Sekundärtugenden ist er wohl am besten mit Hilfe der Haupttugenden zu beschreiben. Jonas war der lebende Beweis dafür, daß es einem klugen Mann nicht an Tapferkeit fehlen muß und einem gerechten nicht an Maß.